Liddy musste Louises Blick bemerkt haben, denn sie setzte sich auf den freien Platz neben Louise und flüsterte: »Ist er nicht ein Goldstück?« Louise konnte nur nicken, denn sie sah, dass so ziemlich alle anwesenden Frauen ganz hingerissen waren von ihm. Sie standen am Klavier, hingen an seinen Lippen und strahlten ihn an, wenn er ihre Blicke erwiderte. Aber immer wieder suchten und fanden seine Augen Louise. Sie war die Einzige, der er zuzwinkerte.
»Das Stück kenne ich gar nicht. Weißt du, wer es komponiert hat?«, fragte Louise, als Herr Müller ein besonders schönes Lied anstimmte.
»Das hat er selbst komponiert«, antwortete Liddy stolz.
Louise konnte nur noch staunen, während Liddy ein Lächeln verbergen musste. Sieh an! Ihre Freundin Louise, die ihr mit voller Überzeugung versichert hatte, niemals zu heiraten. Da musste schon ein so fabelhafter Mann wie Gustav Müller kommen, um Louises Prinzipien ins Wanken zu bringen.
Ja, Louise fühlte sich wie in einem schönen Traum, denn sie war diejenige, der Gustav Müller seine Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Zu ihr kehrte er immer wieder zurück, um sich mit ihr zu unterhalten. Mit ihr ging er zu Tisch und war der aufmerksamste Tischnachbar, den Louise sich nur wünschen konnte.
»Darf ich Sie nun fragen, was Ihnen im Erzgebirge begegnet ist, dass sie so blass wurden, als die Sprache darauf kam?«, fragte er leise. Und Louise erzählte ihm ihre Erlebnisse. Von dem Gespräch der beiden Fabrikherren im Café bis zu dem Unfall des kleinen Mädchens und den Worten, die Herr Fechter darüber verloren hatte.
»Können wir es uns als Volk leisten, Tausende von Kindern auszuschließen von Bildung, von allem, was einen Menschen vom Tier unterscheidet? Es sind doch auch Menschen wie wir! Geschaffen nach Gottes Ebenbild. Aber was bleibt von Gottes Ebenbild übrig, wenn es täglich über zwölf Stunden in Lärm, Schmutz und Gefahr zubringt, wenn man ihm von frühester Jugend an jeden Funken, der Gedanken – gar Ideen! – entzünden könnte, zertrampelt?
Kann es sich eine Gesellschaft wirklich leisten, einen Großteil in vollkommener Dummheit zu halten? Kein Mensch kann so philisterhaft sein, anzunehmen, dass kluge Köpfe nur in reichen Häusern geboren werden. Auch in armen Hütten gibt es intelligente Kinder. Kann es sich ein Volk leisten, all diese vielen Kinder zu übersehen, ihnen niemals eine Chance zu geben?
Wie viele solcher Mädchen, das an jenem Tag seine Hand verloren hat, gibt es in ganz Deutschland? Wie viele Kinder wären gute Gelehrte, die uns allen neue Welten erschließen könnten? Wie viele Kinder wären gerechtere, weisere und vielleicht sogar weniger korrupte Richter als die, die jetzt richten über Menschen, die aus Unbildung oder einfach nur durch Hunger und Verzweiflung zu Verbrechern geworden sind?
Wie viele Mädchen wären gute Geistliche, Lehrerinnen, Ärztinnen oder Wissenschaftlerinnen? Wie viele von all diesen armen Kindern würden gerne schreiben, um unsterbliche Literatur zu schaffen, wenn man sie nur ließe?« Sie hatte mit einer Leidenschaft gesprochen, die Gustav Müller tief beeindruckte.
»Fräulein Otto, Sie müssen meinen literarischen Zirkel in Leipzig besuchen. Ich kenne dort Künstler, Musiker und«, hier senkte er seine Stimme zu einem Raunen, »Demokraten. Man würde Sie mit Ehren dort aufnehmen. Sie haben so vollkommen recht und sprechen mir mit Ihren Worten aus der Seele. So wie Sie denken gar manche meiner engsten Freunden. Es kann so nicht weitergehen. Man muss sich auch um die armen Menschen kümmern. Und …«, er zögerte, bevor er weitersprach, »ich muss Ihnen gestehen, dass ich ein Beispiel in meiner nächsten Verwandtschaft habe. Mein Vater hat durch einen Unfall seine Arbeitsstelle verloren. Ich weiß von ihm nur zu gut, wie ein Mann sich fühlt, der sich nicht mehr selbst ernähren kann. Er grämt sich, dass ich ihn erhalte, aber mir ist es eine selbstverständliche Pflicht, meinen Vater zu versorgen. Welcher Sohn täte das nicht?«
Louise spürte gerade bei diesen Worten eine warme Zuneigung für diesen Mann aufflammen und drückte seine Hand sehr liebevoll.
Es folgten zwei Tage, in denen Liddy immer wieder dafür sorgte, dass man mit Gustav Müller zusammentraf, mit ihm spazieren ging, in Cafés einkehrte und die Museen besichtigte. Dabei vermied sie tunlichst jegliche Neckerei, was Louises aufgeblühten Zustand betraf. So niedergeschlagen war sie aus Oederan gekommen und wie glücklich fuhr sie nun aus Dresden fort. Allerdings nach Meißen. Zu Tante Malchen. Das war weniger beseligend.
Meißen, Mitte Februar 1840
»Louise! Louise, wo bist du denn schon wieder?« Tante Malchens Stimme riss Louise aus ihren Gedanken. Verärgert legte sie ihren Federkiel zurück auf den Schreibtisch und verstaute die Blätter, auf denen sie nur wenige Zeilen geschrieben hatte, schnell in der Schublade. Der Roman musste warten. Mit einem Seufzer erhob sie sich. »Ja, Tante, ich komme. Was ist denn?«
»Du hast Post bekommen. Ein Brief von …«, Tante Malchen hob den Brief ganz nah an ihre Augen, »Liddy Müller. Ein ziemlich dicker Brief. Schau mal gleich, was sie alles schreibt. Ihr habt euch doch gerade erst in Dresden gesehen. Dass sie da so viel zu schreiben hat? In Dresden scheint allerhand los zu sein.«
»Ja, Tante. Kann ich jetzt bitte den Brief lesen?« Louise streckte ihre Hand danach aus, worauf die Tante ihr ihn reichte.
»Natürlich. Aber lies ihn laut vor, denn ich kann nicht mehr so gut sehen.«
Mit einem Blick zur Decke öffnete Louise den Brief und begann zu sprechen, als lese sie vor. Ausführlichst ließ sie Liddy das Wetter in Dresden beschreiben, ein neues Kleid ihrer Mutter, einen neuen Hut ihrer Mutter. Dazwischen überflog sie Liddys Zeilen und fand zuletzt ein Blatt mit einer fremden Handschrift. Konnte das sein? Sollte etwa Herr Gustav Müller dieses Gedicht geschrieben haben?
»Verlaßner Waldvogel an Louise Otto« stand in angenehm klaren Zügen darüber.
»Was zappelst du denn so auf dem Stuhl herum?«, fragte Tante Malchen streng. »So lustig ist es doch nicht, wenn sich Liddys Mutter neue Sachen kauft.« Sie murmelte noch etwas von unnötigem Tand, während Louise sich redlich bemühte, so ruhig wie möglich weitschweifige Berichte über Liddys verschnupfte Verwandte vorzutragen.
»Habt ihr jungen Leute euch denn nichts anderes mitzuteilen? So viel Papier zu verschwenden für solchen Unsinn.«
Louise zuckte nur mit den Schultern. »Da muss ich dich leider enttäuschen, liebe Tante, das war’s. Ich geh schnell wieder an die Arbeit. Die Wäsche macht sich nicht von alleine.« Schon war sie zur Türe hinaus und lief in den Keller, wo der Waschzuber stand. Dort las sie voller Vorfreude und Wort für Wort, was sie unter Tante Malchens strenger Aufsicht nur erahnt hatte: Liddy lud sie im April nach Dresden und ins Theater ein, wenn die Schröder-Devrient den Romeo gab. Außerdem nahmen ihre Pläne bezüglich der Pension für Mädchen konkrete Formen an. Aber worüber sich Louise am meisten freute, war das Gedicht, das tatsächlich Herr Gustav Müller mitgeschickt hatte und das den Titel »Verlaßner Waldvogel« trug.
Auf dieses Gedicht antwortete sie wiederum mit einem Gedicht und schickte es an Liddy – mit dem Hinweis, dass sie Herrn Müller gerne ihre Adresse weitergeben könne, denn sie freute sich schon darauf, mit ihm in einen lebhaften Briefwechsel zu treten, voller Lyrik und schöner Gedanken. Es gab viele Paare, die in der Literatur bekannt waren durch ihren regen geistigen Austausch. Das war es, was Louise sich vorstellte: Auf geistiger Ebene wollte sie sich mit Herrn Gustav Müller verbinden. Und schon schlich sich eine bange Ahnung an sie heran: Würde ihm das genügen?
In den folgenden Wochen kamen viele Briefe von Gustav Müller, die Louise zwischen der Hausarbeit unter strengen Tantenaugen als Briefe ihrer Freundin Liddy vorlas. Glücklicherweise verlor die Tante das Interesse, nachdem immer wieder nur vom Wetter und Husten, von neuen Handschuhen und Hüten die Rede war.
Louise antwortete Gustav mit Prosa und Gedichten. Natürlich merkte die Tante, dass Louise viel schrieb, worauf Louise ihr erklärte, sie schreibe Kochrezepte und Haushaltsratschläge für Liddy auf.
Dresden, im April 1840