Der Sound-Revolution auf den Fersen?
Um zur zweiten Behauptung zu kommen: Falls meine Annahme stimmt, dass 3D viel mehr ein Supplement zu Ton und Hören denn zu Bild und Sehen ist, eröffnet sich eine neue Dimension. Ein Großteil der Abneigung gegen 3D seitens der Kritiker (und selbst der Regisseure) speist sich aus der Annahme, dass 3D vorwiegend eine Erweiterung des Visuellen darstelle und uns dem Realismus immer näher bringe. Realismus ist, wohlgemerkt, eine der beständigen (wenn auch fragwürdigen) Teleologien, die die Geschichte des Films und deren Hauptinnovationen (vom Stumm- zum Tonfilm, vom Schwarzweiß- zum Farbbild, von 2D zu 3D) bestimmen. Wie die Forschung über das frühe Kino allerdings gezeigt hat, beruht diese Genealogie auf einem historischen Irrtum, selbst wenn man 3D außen vor lässt, denn mit Ton und Farbe wurde seit den Anfängen des Kinos experimentiert. Der 3D-Film selbst existiert bereits seit 1902, als die Lumière Brüder (und nicht Méliès!) auf der Pariser Weltausstellung 3D-Filme auf eine riesige Leinwand projizierten.
Auch Jeffrey Katzenberg, ehemaliger Produktionsleiter bei Paramount und Disney und gegenwärtig CEO bei DreamWorks Animation, scheint eine ähnlich selektive Auffassung der Filmgeschichte zu teilen. Katzenberg, neben Spielberg und James Cameron einer der Hauptfürsprecher der 3D-Technologie in Hollywood, wurde aufgrund seines missionarischen Eifers bereits zum »Jerry Falwell des 3D«18 erklärt, auch wenn sein Konterfei eher suggeriert, er habe Modell für Shrek gestanden, einem der erfolgreicheren (inzwischen 3D-) Franchises seiner Produktionsfirma. Katzenberg spricht von 3D als der dritten Revolution des Kinos: »There have been two previous revolutions that have occurred in movies. The first one is when they went from silent film to talkies, and the next one happened when they went from black-and-white to colour. Which was 70 years ago. In my opinion, this is the third revolution.«19 Das Erstaunliche an Katzenbergs »Revolution« ist nicht so sehr, dass sie einer viel zu stromlinienförmigen und zweckorientierten Auffassung der Filmgeschichte entspringt. Bemerkenswerter und richtungweisender ist, dass Katzenberg denkt, 3D führe das Bild aus dem, was er die »vinyl phase« nennt, heraus:
»As human beings, we have five senses: touch, taste, smell, hearing and sight. The two senses that filmmakers use to affect an audience are hearing and sight. And if you think about the evolution of sound, [which] in our lifetime, […] has gone from vinyl to an 8-track to a CD to digital. But sight is kind of at vinyl right now. Whatever sight—whether it's in a magazine that you're looking at, or it's on a television set, or on your iPod, or in a movie theatre—we're kind of, at vinyl.«20
Katzenberg scheint praktischerweise Hollywoods 3D-Phase in den Fünfzigern vollkommen vergessen zu haben. Seine Plattenmetapher (und somit seine Analogie zum Ton) zeigt zwei weitere interessante Aspekte auf: Während der letzten 30 Jahre hat sich Hollywoods Filmindustrie in vielerlei Hinsicht revolutioniert, vor allem was die digitalen Produktionsmethoden und das damit verbundene Outsourcing der Filmnachbearbeitung betrifft. Allerdings wurden nur sehr wenige dieser Innovationen industrieller und geschäftlicher Natur vom Durchschnittszuschauer bemerkt, da das Kinoerlebnis selbst weitgehend unverändert blieb: der zweistündige Spielfilm, das erzählerische Format, die Genres-und-Stars-Formel, die wie im Theater angeordneten Sitze, der Projektor im Rücken, die Gewohnheit des »Mach dir ein paar schöne Stunden, geh ins Kino«, Popcorn und Softdrinks.
Was sich allerdings beträchtlich verändert hat und was ebenso oft als Grund der Wiederbelebung der Filmindustrie in den Achtzigern gesehen wird, ist der Filmton. Der »Surround Sound« wurde stark vom Walkman-Erlebnis der Achtziger geprägt und machte, was damals als »persönliches Stereo« bekannt war, zu einem kollektiven, geteilten Erlebnis. Auf einmal gab es eine neue Art der öffentlichen Intimität, vermittelt durch den Klangraum, den wir mit anderen Zuschauern im Dunkeln teilen.21 Dolby (direktionaler Multikanalton) gab dem Kino neue räumliche Tiefen- Dimensionen. Vier wichtige Filme der zweiten Hälfte der Siebziger (Nashville, Jaws, Star Wars und Apocalypse Now) bereiteten – jeder auf seine Art – dem neuen Ton den Weg und definierten das Kinoerlebnis neu. Vertritt Katzenberg also nur, was vielleicht unerwartet, aber dennoch im Nachhinein offensichtlich ist, dass nämlich die visuelle Komponente mittels 3D-Bildern endlich mit dem dreidimensionalen Ton gleichzieht?
Sollte dem so sein, hängt dies mit der sich im Allgemeinen wandelnden Beziehung zwischen »Ton« und »Bild« in unserer Kultur zusammen: Immer mehr definieren Ton und Geräusche öffentliche und private Räume, innere und äußere Welten, Normen und Abweichungen. Spätestens seit die Dolby Geräuschunterdrückungssysteme eingeführt wurden, begann Ton als dreidimensional wahrgenommen zu werden. Auf einmal »füllte« der Ton den Raum wie Wasser ein Glas, ging aber gleichzeitig von unseren Köpfen aus und stattete uns – selbst beim passiven Hören – scheinbar mit aktiver Handlungsmacht aus. Im Kino hat sich die traditionelle Hierarchie zwischen Bild und Ton zu Gunsten des letzteren verschoben. Der Ton dominiert inzwischen das Bild oder ist zumindest das, was den Gegenständen ihre ganz eigene Körperlichkeit und Materialität verleiht. Diese Entwicklung bewegte den Filmtheoretiker Christian Metz von »akustischen Objekten«22 zu sprechen, ein Verständnis, das der mit mehreren Oscars ausgezeichnete Film The Artist (F 2011, R: Michel Hazanavicius) erfolgreich umsetzt. The Artist ist ein »Stummfilm«, in dem der Protagonist sich weigert, sich auf die »Talkies« (Tonfilme) einzulassen. In einem seiner Alpträume erwachen Alltagsgegenstände wie Wassergläser oder Stühle plötzlich zu unheimlichem akustischen Leben, und dies in einer ansonsten lautlosen Welt. Die Rückkehr der 3D-Technologie kann also als Teil einer breiteren Wandlung technisch induzierter Synästhesien und Sinnessubstitutionen gesehen werden, in der der Ton zur »Modalität des Sehens« und das Sehen zum Supplement des Hörens wird, wodurch der monokulare Blick zusehends im Meer des Stereosounds aufgeht.23
Es gibt allerdings noch einen weiteren Aspekt des Tons, der für die Entwicklung hin zum 3D-Bild von Bedeutung ist. Man bedenke, wie rasch – und für die Musikindustrie, wie profitabel – das gesamte überlieferte Archiv der Tonaufnahmen mit der Einführung der CD ins Digitalformat konvertiert wurde und wie bereitwillig die Konsumenten die CD akzeptierten. Angesichts dieser Tatsache fällt es nicht schwer zu verstehen, warum für die Besitzer der Hollywood-Filmbibliotheken die Aussicht, unser Filmerbe ins 3D-Format zu konvertieren, dem Heiligen Gral gleichkommt. Technisch machbar, wenn auch derzeit noch recht teuer, war genau dies (zumindest bis vor kurzem) das erklärte Ziel von Leuten wie James Cameron – nicht zuletzt, da er mehrere der Patente für solche Konvertierungsprozesse besitzt.24 3D könnte den eingebrochenen DVD-Markt wieder ankurbeln, ganz ohne Kinoneufassungen, und gleichzeitig den Konsumenten dazu bewegen, 3D als neue Standardtechnologie für TV- und Laptopbildschirme zu betrachten. Dies würde ihn natürlich dazu bringen die alte Hardware zu ersetzen, zumindest falls die neue Hardware ebenso für den Einsatz von vertrauter wie auch neuer Software geeignet ist. Die Vermarktung von 3D auf der Großleinwand heute wäre somit ein Weg auch durch die Filme von gestern in den Einsatz von 3D auf den Kleinbildschirmen von morgen zu investieren.25
Die vielfältigen Verständnisse der Geschichte des 3D – für eine andere Genealogie des Kinos
Die »Rückkehr« des 3D, um meine Hauptthese zu konkretisieren, ist daher nur eine von mehreren neuen Offensiven, die bestimmen, wie wir uns zukünftig in simultanen Räumen, in multiplen Temporalitäten sowie datenintensiven simulierten Umgebungen verorten, und die somit beeinflussen, wie wir in und mit »Bildern« leben. Um diese These weiter zu untermauern, muss ich im Folgenden einige der alternativen, und deshalb oft übergangenen Interpretationen der Filmgeschichte im Hinblick auf Stereoskopie und 3D-Technologie skizzieren.