Digitale 3D-Technologie – ein erledigter Fall?
Niemandem wird entgangen sein, dass das in den letzten Jahren meistkommentierte Phänomen im Bereich des Mainstreamkinos der Aufwand ist, mit dem die Filmindustrie das digitale 3D-Kino als neue »Attraktion« zu lancieren versucht hat. Künftige Filmhistoriker werden sich an die Filmjahre 2009-2010 als die Zeit der »Rückkehr des Dreidimensionalen« erinnern, die mit der Premiere von James Camerons Avatar am 18. Dezember 2009 ihren Höhepunkt erreichte; einem Film, der mit weltweiten Einnahmen von drei Milliarden Dollar innerhalb von nur sechs Wochen als der größte und schnellste Kassenhit aller Zeiten Geschichte schrieb.
Im Vorfeld und seitdem haben viele die neue Technologie für sich entdeckt: Mainstreamregisseure wie Robert Zemeckis (Beowulf, 2007), Steven Spielberg und Peter Jackson (The Adventures of Tintin, 2011), Studios wie Pixar (Toy Story 3, 2010), Disney (Up, 2009) und Dreamworks (Shrek Forever After, 2010), und neben Scorsese auch andere anerkannte Auteurs wie Tim Burton (Alice in Wonderland, 2009), Michel Gondry (The Green Hornet, 2011), sowie – nicht zu vergessen – europäische Filmgrößen wie Werner Herzog (Cave of Forgotten Dreams, 2011) und Wim Wenders (Pina, 2011). Trotz des Interesses und der Befürwortung in dieser Größenordnung besagt ein zweiter respektierter Konsens, dass der Höhepunkt des 3D bereits überschritten, das Revival ins Stocken geraten ist und dass die 3D-Welle weder ein ästhetischer noch ein wirtschaftlicher Erfolg war. Der angesehene Kritiker Roger Ebert wetterte von Anfang an gegen das 3D-Kino und beschimpfte es als Irrweg, Travestie und Abscheulichkeit:
»3D is a waste of a perfectly good dimension. Hollywood's current crazy stampede toward it is suicidal. It adds nothing essential to the movie-going experience. For some, it is an annoying distraction. For others, it creates nausea and headaches. It is driven largely to sell expensive projection equipment and add a $5 to $7.50 surcharge on already expensive movie tickets. Its image is noticeably darker than standard 2D. It is unsuitable for grown-up films of any seriousness. It limits the freedom of directors to make films as they choose.«1
Während Ebert, unterstützt von keinem Geringeren als Walter Murch,2 den »Fall 3D« bereits für abgeschlossen hält, ist in Kristin Thompsons Blogartikeln (zu finden auf ihrer und David Bordwells Website) mehr als nur ein Hauch Schadenfreude erkennbar. So zitiert sie zum Beispiel folgenden Satz aus der Filmbranche: »it's as if the characters are actually reaching out of the screen … and robbing your wallet«. In zwei aufeinanderfolgenden Einträgen verweist Thompson darüber hinaus auf Zahlen, welche die stark abfallenden Einnahmen an den Kassen der 3D-Kinos belegen sollen.3 Bordwell und Thompson sind nicht die Einzigen, die den großen Medienrummel und die Einnahmen von Avatar für einen Einzelfall hielten.4 So wählte zum Beispiel der britische Kritiker Mark Kermode für seinen Verriss den sarkastischen Titel »Come in Number 3D, your time is up«.5
Diese und viele ähnliche Ansichten stützen eine der gängigsten Erklärungen, warum es überhaupt ein 3D-Revival gab: Wie bei der Einführung des Fernsehens in den fünfziger Jahren sah sich Hollywood einmal mehr durch wachsenden Wettbewerb unter Druck gesetzt, diesmal allerdings durch Internet und dramatische Einbrüche im DVD-Verkauf. Um sich der Onlinepiraterie zu erwehren, den Erlebnischarakter des Kinos aufzuwerten und sich somit von Heimkino, Netflix und iPad zu unterscheiden, musste Hollywood einen neuen Gimmick, einen neuen Spezialeffekt einführen, eine neue Attraktion anbieten. Der neue Gimmick war jedoch tatsächlich ein alter, der sich bereits das erste Mal nicht lange hatte halten können. Da aber Hollywood ein schlechtes Gedächtnis habe und dazu noch keine neuen Ideen, habe man den alten Trick erneut probiert, um erneut damit zu scheitern.
Soweit die landläufige Einschätzung, die durch eine kurze Aufarbeitung des Aufstiegs und Falls des anaglyphen 3D-Kinos von 1952 bis 1954 (dessen »goldene Zeit« also ebenfalls nur zwei Jahre dauerte) untermauert werden kann: Alles begann mit Bwana Devil (1952) und House of Wax (1953) und endete mit The Creature from the Black Lagoon (1954). Jane Russell zu Ehren sollte man auch The French Line (1954) erwähnen, einen Film der bezeugt, dass 3D als Spezialeffekt in den Fünfzigern vor allem darin bestand, dem Zuschauer große, runde oder spitze Objekte entgegen zu schleudern, seien es Pfeile, Schwerter, Felsbrocken oder Busen. Beeinträchtigt durch konkurrierende und inkompatible technische Systeme (anaglyphes und polarisiertes 3D), unbequeme Brillen, eingeschränkte Blickwinkel und angebliche Kopfschmerzen wurden 3D Filme tatsächlich nur zu einer flüchtigen Modeerscheinung Hollywoods. Die eigentlichen Gründe des Scheiterns von 3D in den Fünfzigern sind allerdings sowohl einfacher als auch komplexer als diese Erklärung vermuten lässt. Wie laut Thompson heute wieder der Fall, waren bereits in den Fünfzigern die 2D-Versionen wesentlich einträglicher als ihre Pendants in 3D. Dies lag nicht zuletzt daran, dass viele Kinos nicht auf 3D-Projektion umsteigen wollten, sozusagen dagegen wetteten, und somit zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung beitrugen. Ein Opfer dieser Situation war beispielsweise Alfred Hitchcocks Dial M for Murder (1954). Obgleich in 3D gedreht und beworben, kam der Film nur in 2D ins Kino. Derweil wurden in der Subkultur des Undergroundkinos weiter 3D-Filme produziert, wie z. B. The Stewardesses (Allan Silliphant, 1969), dem in Hinblick auf die Produktionskosten profitabelsten 3D-Film bis zum Erscheinen von Avatar. The Stewardesses und Avatar deuten auf erstaunliche Parallelen zu einem weiteren hocherfolgreichen und ebenfalls wegweisenden Film, Easy Rider (USA 1969, R: Dennis Hopper), der die Teenager, großenteils aufgrund seines Soundtracks, wieder in die Kinos holte. Die Verbindung ist weniger zufällig, als es vielleicht scheinen mag: populäre Musik und 3D hatten ebenfalls, wie noch gezeigt werden wird, ein verspätetes Rendezvous.
Gegen-Narrative / Alternative Ansätze
Wenn man nun die Auffassung Eberts, Kermodes, Thompsons und weiterer Kassandras kurz beiseite lässt, rücken mehrere alternative Ansätze in den Blick, das Phänomen »Rückkehr zum 3D« zu erklären. Vier scheinbar kontraintuitive Behauptungen lassen sich aufstellen:
1 Die kurzfristigen Ziele des D3Ds liegen innerhalb der Filmindustrie. Die längerfristigen transformativen Effekte werden sich aber vor allem auf Kleinbildschirmen, Spielekonsolen und Mobilbildschirmen zeigen, wenn auch die Entwicklung des Fernsehens noch eine Weile in der Schwebe bleiben wird. Des Weiteren ist es für die kurzfristige Industriestrategie der D3D Einführung, sobald sie erfolgt ist, weitgehend irrelevant, ob 3D-Filme auf Großleinwänden eine vergängliche Modeerscheinung, eine Nische oder der große Wurf sein werden.
2 Das wieder auflebende 3D ist als Komplement zu Kinoton und Sound d. h. zu unseren akustischen Repräsentationssystemen zu verstehen. Wir sollten 3D also nicht (nur) als verbessertes, »realistischeres« System der visuellen Darstellung begreifen.
3 Historisch gesehen kann man argumentieren, dass 3D der 2D-Technologie in der mechanischen Bildproduktion vorausging. Noch vor der Einführung des Kinos eroberte die Stereoskopie so unterschiedliche und gleichzeitig verwandte Bereiche wie Entertainment und Militär. Das Kino übernahm daraufhin Aspekte der Stereoästhetik und unterdrückte zugleich das Wissen um deren Popularität.
4 Ästhetisch gesehen ist es das Ziel der D3D-Technologie, in den Filmen selbst eher unsichtbar, d. h. gefühlt und nicht bewusst bemerkt zu werden. In anderen Worten, ein Großteil des von Regisseuren, Designern und 3D-Zeichnern betriebenen Aufwands ist auf die »Naturalisierung« des technologisch produzierten räumlichen Blicks gerichtet, um den Effekt dadurch immer weniger wahrnehmbar zu machen.
Meine Hauptthese geht aus diesen vier Punkten hervor. Sie besagt, dass 3D nur eines der Elemente ist, die unser Bildverständnis neu definieren, dass 3D in diesem Prozess unseren zeitlichen und räumlichen Orientierungssinn verändert und somit unser verkörpertes Verhältnis zu datenintensiven simulierten Umgebungen.