Gemälde schweigen, auch wenn sie geöffnete Münder zeigen, aus denen sich Schreie und Flüstertöne, kluge und dumme, liebevolle und aggressive Äußerungen ergießen würden, wenn denn ein Gemälde sprachfähig wäre. Gesprochenes kann man nicht sehen; selbst wer sich auf die Kunst versteht, Laute von den Lippen abzulesen, sieht eben sich bewegende Lippen, nicht aber den Sinn, den sie artikulieren. Es gibt ein altes Theologumenon, demzufolge sich zeigt bzw. offenbart, was sich nicht sagen lässt. Mit der Tradition des Bilderverbots, wie es die jüdische, christliche und islamische Religion in unterschiedlichen Ausprägungen kennt, liegt dieses Theologumenon in einem latenten Konflikt. Wir sollen uns kein Bildnis von Gott machen, denn mit dem von uns verfertigten Bildnis würden wir dem blendenden Schein erliegen, über Gott, den Abgebildeten zu verfügen. Gott kann sich zeigen und offenbaren, wir aber können ihn nicht angemessen darstellen und schon gar nicht über ihn bestimmen. Dieses Motiv hat noch in Kreisen der analytischen Philosophie Autorität. Heißt es doch in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus in ergreifender Schlichtheit: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (6.522)1 Das Mystische, Mysteriöse, Geheimnisvolle gehört der visuellen Sphäre zu. Es wird entschleiert, es soll sich als nackte Wahrheit offenbaren, es bedarf der Enthüllung, es kann in Evidenz übergehen, es kann aber auch blenden und blind machen – zu viel Offenbarung, zu viel strahlende Illumination vertragen wir offenbar nicht. Es sei denn, wir halten dem Gewicht von Sein und Zeit sprachlich stand. Dann bewegen wir uns aber nicht mehr in der visuellen Sphäre der Bilder, sondern in der Sprache. Das Rätsel ist im Medium der Sprache, was das Geheimnis im Medium der Bilder ist. Wem es gelingt, das Enigma zu lösen und den rätselhaften Code zu dechiffrieren, wem das Losungswort über die Lippen kommt, hat das Rätsel des Sinns gelöst und muss doch feststellen, dass das Mysterium des Seins bleibt. Das gilt vice versa auch für den Enthüller des Mysteriums: er sieht, was der Fall ist, ist also im Bilde, ohne damit schon den Sinn dessen entschlüsselt zu haben, was sich ihm darbietet. Er sieht und durchschaut alles, ihm offenbart sich das Geheimnis, und dennoch oder eben deshalb bleibt alles rätselhaft. Rätsel und Geheimnis können so wenig zueinander kommen wie die beiden Königskinder – und wie Bilder und Sprache. Und doch sind sie einander ganz nahe.
»Ein a priori wahres Bild gibt es nicht.« (2.225)2 Aber es gibt diesen Satz, der offenbar wahr sein soll und der davon zeugt, dass sich ein kluger Kopf wie Wittgenstein ein Bild der Lage hat machen können. Die überlange Epoche der Medientechnologie, in der Sprache und Bilder, Kommunikation und Wahrnehmung, Enigma und Mysterium einfach deshalb unterschiedlichen Sphären zugehörten, weil Leinwand und Schreibpapier, Pinsel und Kreide, Fotoapparat und Wachswalze leicht zu unterscheiden waren, war die Epoche der Metaphysik und der Ontotheologie – mit Heidegger zu formulieren: die Zeit des Weltbildes. Metaphysik hieß immer auch, davon auszugehen, dass hinter der Physis noch etwas anderes als die Physis west; dass soma und sema zusammengehören, weil sie getrennt sind; dass das Seiende, das Ontische, vom Logos des göttlichen Seins (Onto-Theologie) gelassen wird. Für diese Denkmodelle, die ohne Medienmodellierungen undenkbar wären, gibt es ein schönes Denkbild, das in Francis Bacons Gemälde Schreiender Papst hineinspielt. Danach gehören das verhüllende Textil und der enträtselnde Text nicht nur etymologisch zusammen. Text/il/e ent- und verbergen. Der schreiende Papst artikuliert unförmig, er schreit eben, und er trägt ein unförmiges Textil, das Falten wirft.
Die Natur ist stumm, weil sie trauert. Und sie trauert ob ihrer Stummheit. Ein Circulus vitiosus, der Anlass zu einem Schrei gibt. Der Himmel schweigt, über allen Gipfeln ist Ruh. Bildende Kunst schweigt ihrerseits, aber das Pathos ihres Gelingens ist es, das Schweigen dessen, was im Bilde ist, zum Schweigen zu bringen. Der Letztsinn lässt sich weder wahrnehmen noch vernehmen – aber genau das lässt sich wahrnehmen und aussagen. Das weiß auch Lenz in Büchners Erzählung, die auffällig-unauffällig die Verben »sehen« und »hören« in eine spannungsreiche Konstellation bringt.
»Gegen Abend wurde Oberlin zu einem Kranken nach Bellefosse gerufen. Es war gelindes Wetter und Mondschein. Auf dem Rückweg begegnete ihm Lenz. Er schien ganz vernünftig und sprach ruhig und freundlich mit Oberlin. Der bat ihn, nicht zu weit zu gehen; er versprach's. Im Weggeh'n wandte er sich plötzlich um und trat wieder ganz nahe zu Oberlin und sagte rasch: ›Sehn' (!) Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören (!) müsste, mir wäre geholfen.‹ – ›Was denn, mein Lieber?‹ – ›Hören Sie denn nichts? Hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt? Seit ich in dem stillen Tal bin, hör' ich's immer, es lässt mich nicht schlafen; ja, Herr Pfarrer, wenn ich wieder einmal schlafen könnte!‹ Er ging dann kopfschüttelnd weiter.«3
»Zu weit gehen« und »versprechen« sind bekanntlich (wie »im Bilde sein«) doppelsinnige Wendungen. Die Begegnungen von sehen und hören, von bildender Kunst und Sprache, von Wahrnehmung und Kommunikation sind ohne Paradoxien nicht zu haben. Wer glaubt beide Sphären zur Deckung bringen zu können geht zu weit und verspricht sich, wenn er ein verlässlich glückendes Rendezvous verspricht. Die hier angedeuteten Reflexionen über die Probleme, die das Verlangen, im Bilde zu sein und davon sprachlich Rechenschaft ablegen zu können, mit sich bringt, haben nun aber einen medientechnologischen Hintergrund, der sich in den letzten zwei Jahrzehnten dramatisch verschoben hat. Und zwar eben deshalb, weil sich die spannungsreiche Konstellation von Bildern und Aussagen bemerkenswert entdramatisiert hat. Digitale Medientechnologie zu implementieren heißt paradoxerweise eben zuallererst, den altehrwürdigen Binarismus von Sprache und Bildern, von Kommunikation und Wahrnehmung zu überwinden. Dieselben digitalen Rechenknechte, die von der Kultur- und Medienkritik plausibel verdächtigt werden, sich zu Herren aufzuschwingen, speichern, übertragen und bearbeiten gleichermaßen Zahlen, Lettern und die Pixel, aus denen die neuen Bilder sind. Man kann sich die damit freundlich einhergehende Medienrevolution nicht kindlich staunend genug vor Augen führen. Wer einen Menschen mit einem Pinsel in der Hand vor einer Staffelei sah, wusste medienapriorisch: hier wird ein Bild gemacht. Wer einen Menschen mit einem Griffel, einer Feder, einem Bleistift oder einem Stück Kreide vor einem Pergament, einem Papier oder einer Tafel sah, lag zumeist nicht falsch mit der Vermutung: hier entsteht ein Text. Und wer jemanden vor einem Abakus oder einem Rechenschieber sah, dem war klar: hier wird gerechnet. Reizvolle Ausnahmen bestätigten die Regel – natürlich war es verführerisch, den Pinsel zu schwingen, um Zahlen auf die Leinwand zu bannen oder mit der Feder ein Gesicht auf Papier zu porträtieren. Solche fließenden, eben analogen Übergänge testeten die Sphärentrennungen zwischen rechnen, schreiben und zeichnen, um sie zu befestigen.
Wer heute vor einem Computermonitor und einer Tastatur sitzt oder auf das Display seines Smartphones