Und so können wir uns ein Bild der gegenwärtigen Medienlage machen und im Bilde sein. Die altehrwürdigen Oppositionen und Binarismen (wie Wahrnehmung – Kommunikation, Physis – Metaphysik, Bilder – Sprache etc.) sind medientechnisch überwunden. Wer sich ein Bild vom Buch der Welt, der Natur, der Schöpfung, der Geschichte etc. macht, kann zugleich ein neues Bild dieser Bücher schaffen. Wie unmetaphorisch diese Rede ist, macht die Gentechnologie schlagend deutlich. Medientechnisch den Humancode zu dechiffrieren, also zu lesen, heißt, ihn auch neu schreiben zu können. Wenn Menschen dem Buch der Bücher zufolge von Gott nach seinem eigenen Bilde geschaffen wurden, so können sie sich nun ein Bild ihrer selbst designen und dafür sorgen, dass sie diesem Bild gleich werden. Hans Blumenberg, also ein Philosoph, der die branchenübliche Wende zur analytischen Philosophie nicht mitvollzogen hat, hat immer wieder darauf hingewiesen, dass ein Denken und Sprechen dies- oder jenseits von Metaphern unmöglich ist. Metaphern, so die nicht sonderlich subtile, aber eben doch solide und plausible Grunddefinition, sind Weisen bildlicher Rede. Zu den Eigentümlichkeiten der digitalen Medienlage gehört es, dass Metaphern in 0/1-Sequenzen keinen Raum haben.
Dennoch werden Metaphern und Metonymien, in denen Bilder und Worte ihr Rendezvous haben, nicht aufhören aufzuhören. Das belegt auch die legendäre Schlagzeile der Bildzeitung vom 20. April 2005, die die frohe Botschaft von der Wahl des deutschen Kardinals Joseph Ratzinger zum neuen Papst verkündete. »Wir sind Papst« lautete die schnell zum Kultzitat avancierte überdimensionale Titelzeile. »Unser Joseph Ratzinger ist Benedikt XVI« lautete der Unter- bzw. Obertitel. Schon eine Woche später, am 27. April 2005, wurde sich die Bildzeitung selbst historisch, als sie auf der ersten Seite titelte: »Eine Schlagzeile wird Kult«.4
Abbildung 2: Bildzeitung
Quelle: Bildzeitung vom 27. April 2005
Von Francis Bacons Gemälde Schreiender Papst unterscheidet sich die legendäre erste Seite der Bildzeitung vom 20. April 2005 (kein Kommentar zu den Assoziationen, die dieser Tag zumindest bei Älteren freisetzt) in vielfacher Hinsicht. »Wir sind Papst« – hier demontiert, wohl ohne dies recht zu wollen, ein Massenmedium, dessen Name schon kundtut, dass Bilder das eigentliche Sagen haben, in drei Worten die Position eines souveränen Letztbeobachters. Alle beobachten alle. Alle können sich ein Bild machen und eine Meinung bilden. So wie Millionen Pixel sich zu einem Bild konfigurieren, das sich unendlich bearbeiten lässt, so konfigurieren sich, die Metaphorik des berühmten Titelkupfers von Hobbes Leviathan ernst nehmend, Millionen Mediennutzer, Medienuser, Medienloser zu dem Letztbeobachter, von dem sie wissen, dass es ihn nicht gibt.
Abbildung 3: Frontispiz zur Erstausgabe von Thomas Hobbes: Leviathan.
Quelle: London 1651
Parabolisch
Was im Leben uns verdrießt,
Man im Bilde gern genießt
(vgl. Goethe-BA Bd. 1, S. 411)
Literatur
Büchner, Georg: »Lenz«, in: Henri Poschmann (Hg.), Georg Büchner; Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992.
N.N., Das siebte Gebot, http://www.bildblog.de/564/das-siebte-gebot/
Von Goethe, Johann Wolfgang/Otto, Regine: Berliner Ausgabe Bd. 1, Poetische Werke, Berlin: Aufbau-Verlag 1965.
Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.
Filme
The Draughtman's Contract (GB 1982, R: Peter Greenaway)
1 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, (6.522), S. 111.
2 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, (2.225), S. 17
3 Büchner, Georg: »Lenz«, in: Henri Poschmann (Hg.), Georg Büchner; Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, Frankfurt am Main.: Deutscher Klassiker Verlag 1992. S. 249
4 http://www.bildblog.de/564/das-siebte-gebot/
Die »Rückkehr« der 3D-Bilder
Zur Logik und Genealogie des Bildes im 21. Jahrhundert
Thomas Elsaesser
Ein Zug fährt ein
Martin Scorseses Hugo spielt im Pariser Bahnhof Montparnasse: kein schlechter Handlungsort, wenn man bedenkt, dass es sich um den Traum eines Jungen über den Ursprung des Kinos handelt – noch einmal erfunden, jetzt in 3D. Auch wenn der Film vorgibt, die Geschichte von Georges Méliès in der Rolle des Kinoerfinders zu erzählen, bezieht sich einer der narrativen Schlüsselmomente dennoch auf L'Arrivée d'un Train en Gare de La Ciotat der Brüder Lumière. In der Szene erhält der Zauberkünstler Méliès von eben jenen Brüdern Lumière unerlässliches Filmequipment und –wissen. In der Anspielung findet sich eine weitere versteckt: Hugo wird in einem seiner Albträume beinahe von einem in den Bahnhof Montparnasse einfahrenden Zug überrollt, eine Szene die gegen Ende des Films »Wirklichkeit« wird. Allerdings wird Hugo von seinem Peiniger, dem Bahnhofspolizisten, gerettet, was das Happy End einläutet. Für Filmkenner gibt es allerdings noch eine dritte Anspielung in der Anspielung auf Lumières L'Arrivée d'un Train en Gare de La Ciotat. Der Zug, den wir zweimal in den Bahnhof rasen sehen, ist nicht irgendein Zug und auch nicht irgendein beliebiger Zug der zwanziger Jahre. Es ist die digital überarbeitete Version des proleptischen Zuges aus Jean Renoirs La Bête humaine (1938), inklusive Jean Gabins bebrilltem und Ruß geschwärztem Gesicht, das aus der Lokomotive schaut: Scorseses mise-en-abyme der Filmgeschichte in umgekehrter Reihenfolge zeigt uns dieses Zugwrack als dreifachen Verweis in 3D und ist somit eher als zeitliches Anamorph denn als optischer Effekt zu verstehen. Scorsese changiert gekonnt zwischen Hommage an die (französische) Filmkultur und Cinephilie und der etwas fragwürdigen Stilisierung des Genies Méliès als Wegbereiter für Hollywoods »Wiederentdeckung« der dritten Dimension. Der Film macht Scorsese, als angesehenen Verfechter der Filmkonservierung, somit zum legitimen Erbe von Méliès' »verlorenem« Vermächtnis. Er deutet aber auch einen Paradigmenwechsel an, was die Wahrnehmung der 3D-Technologie betrifft: 3D versteht sich heute weniger als Spezialeffekt des filmischen Blicks und eher als eine