Wag the Dog: Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt
Trifft Behauptung eins zu, so ist D3D für das heutige Hollywood keine Strategie der Schadensbegrenzung (oder zumindest nicht nur): Die gegenwärtige Situation ist kaum vergleichbar mit den fünfziger Jahren, als die Filmindustrie ihr Familienpublikum ans Fernsehen zu verlieren drohte. Heute ist Hollywood in allen Medien und Märkten präsent, offline im physischen Raum, online in virtuellen Räumen, auf dem national-lokalen Markt ebenso wie auf dem international-globalen.6 Die Einführung einer kostspieligen Technologie, die ausschließlich für die Großleinwand gedacht ist, würde für Hollywood bedeuten, sich selbst Konkurrenz zu machen, was natürlich wenig Sinn ergibt. Das WWW per se bedeutet keine Bedrohung für Hollywood, sondern lediglich dessen »Businessmodells«, da viele Inhalte entweder kostenlos oder zu Preisen angeboten werden, die zu niedrig sind, als dass die Urheber Profit machen könnten. Der Grund hierfür liegt darin, dass »Inhalte« im Web Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck sind. Die Antwort Hollywoods auf das WWW besteht weniger in 3D denn in Franchisefilmen, Merchandizing und themenbezogener Unterhaltung. Auch Onlinepiraterie und Copyrightschutz sind eher Angelegenheiten, die nach rechtlichen Maßnahmen und internationalen Abkommen verlangen als nach technischen Spielereien oder künstlichen Zugriffsbarrieren, wie z. B. der Verschlüsselung der Inhalte.7
Eines der Hauptprobleme der Filmbranche ist industrieintern und besteht darin, die Kinobetreiber zur Investition in die digitale Projektion zu bewegen.8 3D als neue Attraktion war nicht in erster Linie eine auf den Zuschauer ausgerichtete Maßnahme, sondern hauptsächlich für die Kinobetreiber gedacht: Der Eintrittspreisaufschlag sollte deren Kosten für Digitalprojektoren kompensieren.9 Einmal installiert und über die Spielzeit erfolgreicher 3D-Filme amortisiert, ist es nicht mehr so wichtig, ob 3D-Filme sich als Regelfall durchsetzen oder Nischenprodukte sind, ob sich die Technologie nur für Science-Fiction, Fantasy und Animations-Blockbuster eignet oder auch für herkömmliche Dramen, Thriller, Dokumentarfilme und romantische Komödien.10 Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft die digitalen Projektionssysteme, welche die großen Studios den Kinobetreibern aufzwingen wollen, egal ob es sich um Multiplex- oder Programmkinos handelt und ob diese 3D- oder 2D-Filme zeigen. Es geht also um eine weitere Runde im anscheinend endlosen Machtkampf der unterschiedlichen Teilbranchen der Filmindustrie: Die Auseinandersetzungen drehen sich um die Macht, verbindliche Standards setzen zu können, und somit eher beiläufig um 3D und nur nominell um Maßnahmen gegen Produktpiraterie.11
Bereits Ende 2010 berichteten Industrieexperten, dass die Strategie, Kinos mittels 3D zur Investition in Digitalprojektion zu zwingen, weitgehend erfolgreich war. Dies ist der Spielzeit 2009/10 zu verdanken, und insbesondere Filmen wie Up, Coraline, Avatar, Alice in Wonderland sowie Toy Story 3, Shrek, Ice Age und weiteren Disney-Pixar Animationsfilmen.12 Im Gegensatz zu analogem 3D können mit digitaler 3D-Projektionstechnik sowohl 2D- als auch 3D-Filme gezeigt werden (auch wenn die 2D-Projektion durch 3D-Equipment technisch nicht immer ganz reibungslos vonstatten geht).
Mein Argument ist allerdings noch weiter gefasst: Der Medienrummel um 3D auf der Großleinwand hat ähnliche Beweggründe wie jener, mit dem alle neuen Kinofilme lanciert werden: Jede Kinopremiere zielt darauf, kulturelles Kapital zu akkumulieren und Zugang zu den Sekundärmärkten zu sichern, die letztlich entscheiden, ob der Film ein kommerzieller Erfolg wird. In manchen Fällen betragen die Einnahmen an der Kinokasse nur 35% des Gesamtumsatzes eines Films, d. h. des Umsatzes, den ein Film insgesamt über alle Vertriebswege erzielt. Des Weiteren kamen in den letzten zehn Jahren für manche Filme bis zu 70% der Kinoeinnahmen aus Märkten in Übersee.13 Mit anderen Worten, während US-Kinovorführungen ökonomisch gesehen nur eine untergeordnete Rolle für die Hollywood-Unterhaltungsmaschine spielen, hat ein Film ohne solche Kinovorführungen eigentlich weder Präsenz noch Existenz. Das (Miss-) Verhältnis ökonomisch marginal und kulturell zentral macht somit den Kinostart zum treffenden Beispiel für »wag the dog«: wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt, oder – etwas feiner formuliert – für Jacques Derridas Logik des »Supplements«.14
Das Verhältnis zwischen dem Kinostart und der Kette der Sekundärmärkte ist nicht weniger paradox. Angesichts der immer geringeren Aufmerksamkeitsspanne entscheiden die Besucherzahlen am Eröffnungswochenende zusehends über das Schicksal eines Films, sowohl was seinen Erfolg auf dem US-Markt betrifft als auch auf dem internationalen. Die Werbebudgets folgen daher ebenfalls der Logik des Supplements, indem sie immer größere Anteile der Produktionskosten verschlingen. Die extreme Bedeutung, die dem Zeit- und Ortsvorteil der Kinopremiere zugeschrieben wird, kann nicht allein mit Onlinepiraterie erklärt werden. Sie ist Hollywoods Reaktion auf das Geschäftsmodell des Internets, wo DVD–Direktversand und Abonnementdienste wie Netflix oder Redbox Hollywoods ökonomisches Überleben ebenso bedrohen wie illegale Downloads.15
Falls die Filmindustrie also die 3D-Projektion flächendeckend als neuen Industriestandard einführen möchte, benötigen Filme weiterhin die große Leinwand und eine Kinopremiere, um sich zu präsentieren, auch wenn sie für ganz andere Formate bestimmt sind. Angesichts des Potentials von 3D-Bildern wird deren Einsatz sicher bald nicht mehr auf das Multiplexkino beschränkt sein. Auch auf mobilen Geräten, und nicht nur für Spielfilme, sondern auch für andere Arten der Unterhaltung und Information ist der baldige Einsatz von 3D-Bildern denkbar. Dies betrifft vor allem Videospiele, GPS-unterstützte Anwendungen wie zum Beispiel Landkarten (Google Earth und Street View in 3D) und Urlaubsschnappschüsse (Microsofts 3D Photosynth), aber ebenso Bereiche wie Shopping, Tourismus und Amateurvideos. Auch auf Smartphones und Spielekonsolen sind überzeugende 3D-Bilder heutzutage besser darstellbar als man vielleicht erwartet, da räumliche Effekte inzwischen ohne die lästigen Unannehmlichkeiten der 3D-Vorführungen im Kino (Brille, Kopfschmerzen, eingeschränkter Blickwinkel) produziert werden können. Somit stoßen wir auf ein weiteres Paradox: Das 3D-Supplement des Films, von Cinephilen wie Ebert oder Kermode als überflüssig befunden, könnte in vollkommen anderen Wahrnehmungssituationen und Benutzerkontexten sehr nützlich sein.
In Bezug auf die Wiedereinführung von 3D befindet sich das Fernsehen zwischen IMAX-Dome-Leinwand und iPhone-Touchscreen in einer Art Grauzone: Einerseits ist das Fernsehen ein wichtiges Medium zur Verbreitung von Kinofilmen und wird, selbst wenn sich 3D-Filme nur als Nische für den Animations- und Kinderfilm herausstellen, in der Lage sein müssen, solche sogenannten »Premiuminhalte« zu senden. Andererseits wird das Satelliten- und Kabelfernsehen sich neu erfinden müssen, um auf das Internet zu reagieren. Somit werden Verknüpfungen mit Tourismus, Talentshows, Reality-TV sowie Quervernetzungen mit Online-Shopping immer bedeutender werden. Es erstaunt also wenig, dass 3D-Fernseher bereits von globalen Herstellern wie Toshiba, Hitachi, Samsung und LG entwickelt werden.16 Anlass für die Einführung und den Verkauf von neuer Hardware waren – neben Filmen – bisher immer Sportveranstaltungen, große nationale oder internationale Events (Krönungen, königliche Hochzeiten, die Olympischen Spiele) sowie veränderte häusliche Aktivitäten wie zum Beispiel das geteilte Elternglück vor dem heimischen Fernseher oder der private Genuss von Pornographie. Bislang gibt es nur wenige Anzeichen, die belegen, dass solche Anlässe und Faktoren den Konsumenten ebenfalls dazu verleiten werden, seinen HD-Fernseher durch ein 3D-Gerät zu ersetzen. Die Olympischen Spiele 2012 werden weithin als der große »Wendepunkt« angepriesen.17 Bevor 3D sich auch im häuslichen Bereich einen festen Platz erobern kann, werden allerdings noch andere Voraussetzungen zu schaffen sein, wie