Diese Unterscheidungen erhellen den Begriff der »Repräsentation« und sind zum Beispiel hilfreich, um den aus der Filmwissenschaft bekannten, oft etwas vereinfachenden Attacken auf den »Illusionismus« zu begegnen.46 Um die Verbindung zwischen dem Sehen, dem Wahrnehmen, dem Agieren und Interagieren besser verständlich zu machen, hat Gilles Deleuze in seinen wichtigen und vieldiskutierten Werken zwischen »Bewegungs-Bild« und »Zeit-Bild« unterschieden.47 Statt an diese wohlbekannten Debatten anzuknüpfen, sollen hier mittels einiger zwar anekdotischer aber erhellender Beispiele noch zwei wichtige Probleme angeschnitten werden, die unser Verständnis von 3D betreffen. Das erste Problem befasst sich mit unserer Wahrnehmung bewegter Bilder und ihrer internen Organisation, das zweite mit einer möglichen kulturellen Veränderung unserer Reaktionen auf Bilder und deren Verwendung. Im Mai 2009, noch vor der Premiere von Avatar, habe ich im Museum Ludwig in Köln einen Einführungsvortrag für eine anaglyphe 3D-Sondervorführung von Creature from the Black Lagoon (USA 1954, R: Jack Arnold) gehalten. Das Filmmuseum Bonn hatte den Film sowie sein eigenes Personal bereitgestellt. Es dauerte fast einen ganzen Tag, das Projektionsequipment aufzubauen, und angesichts des Veranstaltungsortes wurde die Vorführung zu einer Art Kunstevent oder -installation. Nichtsdestotrotz war das Auditorium dank Handy und Facebook voll von jungen Leuten. Es herrschte eine gespannte Erwartung, wie ich sie seit Star Wars bei keinem zeitgenössischen Film mehr erlebt habe, was unbeabsichtigter Weise bestätigt, dass Retro auch im Kino durchaus wieder in ist.
Auch wenn die meisten Effekte dieses 3D Klassikers unbeholfen erschienen und die netzbehafteten Klauen der »Kreatur« eher einer Harke ähnelten, die sich uns in die Gesichter bohrte, so waren die Unterwasserszenen doch nach all den Jahren noch immer poetisch, packend und faszinierend. Solche Szenen ohne Horizont, durch die Figuren treiben, fliegen, springen und schwimmen, funktionieren wesentlich besser in 3D als Szenen, in denen Menschen zu Fuß gehen oder sich in Schuss- Gegenschuss-Dialogen unterhalten. Dies erklärt, warum Avatar eine so berauschende kinetische und körperliche Erfahrung ist48 und warum Wim Wenders und Werner Herzog gut beraten waren, Tanz und Tänzer (Pina, D 2011) sowie Höhlen und Höhlengemälde (Cave of Forgotten Dreams, F et al. 2011) für ihre ersten ernsthaften Vorstöße in den 3D-Dokumentarfilm zu wählen. Ein Kritiker des Observers findet andere Worte, betont aber ebenfalls das Gefühl des Treibens und Gleitens: »As a spectator, to be positioned by the camera above, beside and amid the dancers of Bausch's Wuppertal troupe is not unlike floating bodiless through more solid phantoms.« In Herzogs Höhlenfilm empfand er, dass »the tremendous sense of movement in these depictions of animals depends on the curvature of the walls of the Chauvet-Pont-d'Arc caves. […] Together, these [two] films suggest that 3D might find its best uses in bringing real rather than imagined things to us.«49
Die »Darstellung nicht von imaginierten, sondern von realen Dingen« stellt einen kontraintuitiven Anspruch an 3D, der die Aufmerksamkeit nicht auf den technologischen und archäologischen Einfluss von 3D lenkt, sondern auf dessen ästhetische und wahrnehmungsbezogene Wirkung. In einer Filmbesprechung von Up – dem Disney-Pixar Animationsfilm, der als Versuchsballon gestartet wurde, um die Autorenkino-Akzeptanz von 3D Filmen in Cannes zu testen – schrieb ein Kritiker: »Man vergisst bald, dass man sich in einem 3-D-Film befindet. … Die neue, sensationelle Technik wird vollkommen in den Erzählfluss eingebunden ...« Diese Entscheidung schien ihm kontraproduktiv:
»Denn eine Sensation – mit der die Industrie natürlich höhere Eintrittspreise durchsetzen will – muss auch als Aufsehen erregend empfunden werden; wenn man ihr ›nur‹ bescheinigt, sie entspreche vollkommen den ›normalen‹ Sehgewohnheiten, verpufft ihr Effekt bald.«50
Darin besteht allerdings genau der Knackpunkt: Man muss 3D nicht als einen Aspekt des Spektakelkinos verstehen, nicht als das, was uns erschreckt und aus der Tiefe des Raums mit Dingen bewirft. Man kann 3D vielmehr als Vorhut eines neuen Kinos der erzählerischen Integration begreifen, das die Geschmeidigkeit, Skalierbarkeit, Fluidität oder »Krümmung« digitaler Bilder in den audiovisuellen Raum einführt. Tut man dies, und sieht 3D als ein Kino, das auf Horizonte und Fluchtpunkte verzichtet, Distanzen nahtlos variiert, die Kamera »entfesselt« und den Zuschauer transportiert, dann sind die ästhetischen Möglichkeiten längst nicht darauf beschränkt, bekannte Märchen nachzuerzählen, die nur für Kinder gemacht sind, die nach Superhelden, Actionspielzeug oder Science-Fiction hungern.
Anders gesagt, die meisten Kritiker, die 3D-Bilder nur im Kontext des Kinospielfilms diskutieren, setzen einen Raum und eine Umgebung voraus, in der der Blick des Betrachters vertikal auf den Bildschirm gerichtet und von einem schwarzen Rahmen beschränkt ist. In dem von mir skizzierten größeren Zusammenhang wird auch diese vertikale, nach vorne orientierte Ausrichtung des Kinos in Frage gestellt. Die Großleinwandaufführung in 3D ist somit nur ein Spezialfall und nicht die Norm im erweiterten Feld der Stereoskopie und des räumlichen Blicks. Ein wesentlich vielfältigeres Aufgebot von Bildflächen ist im Entstehen begriffen oder vorstellbar: Mobil und tragbar, Bildflächen so groß, dass sie das gesamte Blickfeld einnehmen, Bildflächen die uns umgeben und Teil unseres Umfeldes sind, rahmenlose Bildflächen und solche, die auf jeden nur möglichen Raum zugeschnitten sind. Kurzum, 3D kann als symptomatisch für die starke Zunahme von Bildschirmen um uns herum gesehen werden und muss keine bestimmte Sichtweise implizieren und keine bestimmte Art von Bild projizieren, sondern es könnte einen neuen Zuschauer produzieren: Dem idealen, horizontlosen Bild entspräche der ideale Zuschauer – treibend, gleitend, schwebend. Wie bereits der Bezug zu den Phantasmagorien verdeutlicht (und auch das Zitat aus dem Observer), war eine solche raumzeitliche Re- und Dislokalisierung bisher Privileg von Geistern, Wiedergängern und dergleichen virtuellen Erscheinungen aus dem Jenseits. Gute Beispiele von Filmen, in denen Geister die narrative Grundlage für den Einsatz von 3D liefern, finden sich im zeitgenössischen japanischen Kino, allen voran Takeshi Shimizus The Shock Labyrinth 3D (2009). Ein Sonderfall ist der Film Bin Jip (2004) des Koreaners Kim ki-Duk. Obgleich technisch in 2D müssen wir uns hier oft »gekrümmte Räume« und Raumzeitverschiebungen vorstellen, da der Protagonist sich unsichtbar macht, indem er verschiedene para- und pseudostereoskopische Situationen schafft. Dies tut er, als wolle er andeuten, dass die Stereoskopie – Tarnkappenbombern ähnlich, die dem Radar unsichtbar bleiben – den Zuschauer eher mit einer gefühlten, denn mit einer sichtbaren Erscheinung konfrontiert und somit im unbeeinträchtigten Blickfeld Koordinaten der unsichtbaren Präsenz erschafft.51
Veränderungen der raumzeitlichen Wahrnehmung in diesem Sinne benötigen kein 3D-Rendering, selbst wenn sie »imaginierte Dinge« und nicht »reale« darstellen. Roger Ebert macht meines Erachtens in seiner Kritik den Fehler, 3D als erweiterten Realismus im Renaissanceraum zu konzeptualisieren, daher auch der Vorwurf der »Unnatürlichkeit«. Francis Ford Coppola, der sich als einer der Ersten die Räumlichkeit des Tones zunutze gemacht hat, ist bislang nicht von 3D beeindruckt, erinnert aber daran, dass bereits Abel Gance damit experimentierte.52 David Bordwell, ebenfalls eher skeptisch gegenüber 3D, hat in seinem Blog dennoch einige treffende Beobachtungen zum Thema publiziert.53 So erwähnt er zum Beispiel, dass die Animationstechniker in Coraline (USA 2009, R: Henry Selick) 3D-Effekte nicht nutzten, um räumliche Tiefe zu betonen, sondern um Räume zu schaffen, die den Regeln der Perspektive widersprechen, und somit leichte visuelle Anomalien hervorrufen. Mittels künstlicher »Verflachung« des Bildes simulieren sie kognitive