Bei den Verhören ging es nicht zimperlich zu: Die Leute wurden windelweich geprügelt, bis sie ein „Geständnis“ unterschrieben und ihre Treue zum Führer beschworen. Erst nachdem sie das Geständnis unterzeichnet hatten sowie ein weiteres Dokument, in dem sie gelobten, mit niemandem über ihre Erlebnisse zu sprechen (sonst drohte erneute Verhaftung), wurden sie aus dem Konzentrationslager entlassen. Das Erstaunliche war, dass sich trotz alledem so viele Menschen zu widersetzen wagten. Menschen wie Bernis Onkel Kurt Bencken. Der wurde 1934 verhaftet, in einem norddeutschen KZ eingesperrt und erst 1943 freigelassen, weil er, als starrsinniger und unbeugsamer Sozialist, sich zu unterschreiben weigerte.
Mit dem „Ermächtigungsgesetz“ wurde Hitlers Regierung kurz nach den März-Wahlen uneingeschränkte Macht verliehen. Die Sozialdemokraten im Reichstag stimmten dagegen, die bürgerlichen Parteien wie die Zentrumspartei stimmten dafür, weil sie glaubten, Hitler sei nur eine vorübergehende Erscheinung. Damit hatte das Gesetz die notwendige Zweidrittelmehr erreicht. Es wurde als „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ bezeichnet, tatsächlich aber war es ein Blankoscheck, der es der neuen Regierung erlaubte, ohne Zustimmung des Reichstags Gesetze zu erlassen, die zudem von der Verfassung abweichen konnten. Bis zum Ende der Nazi-Diktatur trat das entmachtete Parlament nicht öfter als ein Dutzend Mal zusammen.
Nun folgte in der ganzen deutschen Gesellschaft die Gleichschaltung, die das gesamte private und öffentliche Leben dem Willen der Nazis unterwerfen sollte. Meinungs- und Pressefreiheit gab es nicht mehr. Die Gewerkschaften wurden aufgelöst, ihre Büros besetzt, ihr Vermögen beschlagnahmt, führende Funktionäre in „Schutzhaft“ genommen; der SPD und der KPD erging es nicht anders. Im November hielten die Nazis noch einmal eine Reichstagswahl ab, bei der aber nur noch ihre eigene Partei erlaubt war. Das Ergebnis stand in starkem Kontrast zu den Wahlen neun Monate zuvor: 92 Prozent der Wähler unterstützten nun die Politik der Nazis; so schnell wirkt sich die Angst unter diktatorischer Herrschaft aus.
Von all dem bekam Bernie nicht viel mit, und es hätte ihn wohl auch nicht interessiert. Er freute sich über die vielen neuen Möglichkeiten, die die Nazis der Jugend im Reich boten. Waren sportliche Wettbewerbe zuvor recht planlos durchgeführte Veranstaltungen gewesen, wurden sie nun, als sichtbarer Ausdruck der Rassenideologie der Nazis, durch die Reichsjugendführung zentral organisiert, und zwar auf lokaler, regionaler und, das höchste der Gefühle, nationaler Ebene. Reichjugendführer Baldur von Schirach war ein fanatischer Nazi. Bereits 1924, als er noch Student an der Universität München war, hatte er den ersten Jugendverband der NSDAP ins Leben gerufen. 1931 wurde er Anführer der Hitlerjugend. „Wir, die wir deutschen Blutes und deutscher Rasse sind, klagen an!“, verkündete das im gleichen Jahr durch von Schirach verfasste Manifest der Hitlerjugend:
„Wider Recht und Gesetzt wurde Deutschlands Jugend in der Gefolgschaft Adolf Hitlers mit Verbot, Terror und Willkür verfolgt! Trotz allem! Wir bleiben für immer der Fahne treu! Wir sind gewillt, unser rechtmäßiges Erbe anzutreten. Wir fordern: Los von den Tributen! Nieder mit der Kriegsschuldlüge! Zurückgewinnung der geraubten Scholle! Freiheit dem erwachenden Volke! […] Im Zeichen des Hakenkreuzes, getrieben vom jungen Blut unserer edlen Rasse, wollen wir kämpfen und siegen für Raum, Brot und Arbeit unserer Nation! Jugend, hierher. Adolf Hitler führt!“
Die Struktur der Hitlerjugend war in Stein gemeißelt und ebenso strikt hierarchisch, militärisch und totalitär organisiert wie die NSDAP selbst. Auf der untersten Stufe stand der „Bann“, die lokale Verwaltungsebene. Jeder Pimpf der HJ gehörte, zusammen mit anderen Jungen aus seiner Klasse oder Altersgruppe, einer „Schar“ innerhalb des Banns an, und jede Einheit wurde vom Bannführer geleitet. Über dem Bann kam das „Gebiet“, mit einem Stabsführer an der Spitze. Es folgten die Obergebiete und dann die Reichsjugendführung selbst. Die hatte immense Macht und konnte, stets unter der Weisung der lokalen Parteiorganisation, Ämter verleihen und entziehen. Die Anführer der HJ waren oft als Adjutanten dem jeweiligen Gauleiter der Region beigeordnet. Sämtliche Mitglieder der HJ waren gehalten, in makelloser Uniform bei den endlosen Parteiaufmärschen mitzumarschieren, zu singen und Turnübungen vorzuführen. Ältere Mitglieder der HJ mischten außerdem bei den gewaltsamen politischen Kundgebungen und Straßenkämpfen mit. Bis 1933 hatten bereits 22 Mitglieder der Bewegung ihr Leben zum größeren Ruhm des Führers geopfert.
1934, mit elf Jahren, war Berni als einem von nur zwei Jungen im Großraum Bremen eine Urkunde für außerordentliche sportliche Verdienste verliehen worden, unterzeichnet von Reichspräsident Hindenburg höchstpersönlich. Das hatte ein paar schöne Nebeneffekte, vor allem in der Schule, wo er wie ein Held gefeiert wurde und sich so ziemlich alles herausnehmen konnte. Nicht lange nachdem er seine Medaille erhalten hatte, wurde Berni beispielsweise in den Kunstraum geschickt, wo sämtliche Sportgeräte aufbewahrt wurden, um für das Spiel am Nachmittag einen Ball zu holen. Es waren noch ein paar andere Jungen da, und Berni konnte nicht widerstehen, ein wenig zu kicken und zu zeigen, was er draufhatte. Übermütig versuchte er an einem der Jungen vorbei ein Kopfballtor gegen die Wand zu erzielen. Leider hatte er übersehen, dass an der Wand eine große Glasscheibe lehnte, die im Kunstunterricht zum Malen verwendet wurde. Der Ball landete mitten in der Scheibe, die in tausend Scherben zerbarst. Wenig später stand Berni, in Erwartung einer Tracht Prügel, einmal mehr vorm Schreibtisch von Rektor Schweers. Doch statt der Prügel gab es nur einen milden Tadel sowie ein kleines verschwörerisches Lächeln, das besagen sollte: „Wir wissen doch, dass es nur der Überschwang war, wie bei einem kommenden Sportass des Reiches nicht anders zu erwarten.“ Berni nahm es mit gemischten Gefühlen auf: Einerseits war er froh, so leicht davongekommen zu sein, andererseits war er irritiert und wusste instinktiv, dass das Verhalten des Rektors nicht richtig war.
Herr König war da anders. Wenngleich Bernis Klassenlehrer, wie die meisten seiner Kollegen, seine Lektion gelernt hatte und seine Meinung über die Partei für sich behielt, konnte er dennoch vermitteln, was richtig und was falsch war, weniger mit Worten als vielmehr durch Taten. Herr König war immer fair: Er lobte, wenn Lob angebracht war, und strafte, wenn Strafe angebracht war, und als Lehrer mit Leib und Seele tat er sein Bestes, die pädagogischen Standards zu wahren, auch gegen die im Lehrplan vorgeschriebenen Weisungen des Reichserziehungsministeriums. Als er bemerkte, dass Berni, einer seiner gescheitesten Schüler, lieber aus dem Fenster schaute, als zuzuhören, bat Herr König ihn, zu wiederholen, was er gerade gesagt hatte. Wenn Berni es nicht konnte, schritt er die Schulbänke entlang zum Pult, das Berni sich noch immer mit Herbert Behrens teilte, zog ihn an den Ohren und gab ihm einen ordentlichen Hieb. Das tat weh, leuchtete aber ein.
Doch die HJ redete Jungen wie Berni ein, dass sie die Wichtigen seien, die Starken, die Modernen, die ihren Blick auf die Zukunft und das Tausendjährige Reich richteten, anders als ihre Eltern, die altmodisch, langweilig und schwach seien. Es bestätigte und bekräftigte Berni in der Auffassung, sein Vater sei ein schwacher Mann. Denn er war ein Mann, dachte Berni, der am Familienleben kaum teilnahm, der einfach nur nach Hause kam, sich an den Tisch setzte, sein Abendessen aß, die Zeitung las oder Radio hörte und dann ins Bett ging. Und wo verbrachte er den Sonntagvormittag? In der Kneipe, am Stammtisch, mit seinen Saufkumpanen. Jeden Sonntag gegen halb eins wurde seine Mutter unruhig, denn das Essen war fast fertig, und der Sonntag war der einzige Tag in der Woche, an dem es Fleisch gab.
„Lauf und hol deinen Vater aus dem Gasthof“, sagte sie dann zu Berni, Karl Heinz wurde gar nicht erst gefragt.
„Vati! Essen ist fertig“, rief Berni von der Eingangstür der Kneipe aus, und sein Vater winkte ihn heran, damit er sich zu ihnen zu gesellte, und versprach ihm einen Apfelsaft, klopfte ihm fröhlich auf den Rücken und nannte ihn „mein Junge“. Es konnte Viertel nach eins werden, bis sie endlich heimkamen, sein Vater bestens gelaunt, was seine Mutter überhaupt nicht lustig fand.
„Warum machst du das?“, fragte Berni seinen Vater,