Abgesehen von den Millionen für die Wehrmacht rekrutierten Männern, wurden zahllose Arbeitslose eingesetzt, um neue Militärflughäfen, Kasernen und Flottenstützpunkte zu errichten, in den Munitionsfabriken zu schuften und die Autobahnen zu bauen. Die Plackerei beim Autobahnbau bedeutete einen Zehn-Stunden-Tag, bei höchstens zehn Urlaubstagen im Jahr für 16 Reichsmark die Woche, wovon 15 Pfennige am Tag für die Strohmatten fällig wurden, auf denen die Arbeiter in Holzbaracken schliefen, sowie weitere 35 Pfennige für eine fast ungenießbare Mahlzeit. Nach Abzug von Steuern und anderen Beiträgen konnten die Arbeiter von Glück reden, wenn sie zwölf Reichsmark mit nach Hause nahmen, was weniger als dem halben Durchschnittseinkommen entsprach. Kaum verwunderlich, dass die meisten bald genug vom Autobahnbau hatten, aber viele Arbeiter waren zwangsverpflichtet worden und konnten nicht so einfach kündigen. Die Wiederbewaffnung des Deutschen Reiches fand vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt. Doch die Westmächte Frankreich, England und die USA ließen es geschehen, und das war weder der erste noch der letzte fatale Fehler ihrer Appeasement-Politik.
Berni war inzwischen 13 Jahre alt. Ab welchem Alter ist man für sein eigenes Denken und Handeln selbst verantwortlich und kann zur Rechenschaft gezogen werden? Schon seit 1933 hatte es in Bremen, so wie in jeder anderen deutschen Stadt, gezielte Terroraktionen der Gestapo und der SS gegeben. Plötzlich und unangekündigt tauchten Lastwagen in der Wischhusenstraße auf, Uniformierte sprangen heraus, feuerten in die Luft und schrien: „Rein! Alle rein! Schließen Sie die Fensterläden!“ Die Leute rannten panisch umher, sammelten ihre Kinder ein, liefen in ihre Wohnungen und schlossen Fenster und Türen. Solange diese Ausgangssperre galt, wagte niemand, auch nur aus dem Fenster zu schauen. Auch die Schule blieb geschlossen. Unter den Männern waren stets auch einige ältere Hitlerjungen, und während die Leute in ihren Häusern hockten, wurden Nachbarn aus ihren Wohnungen gezerrt und gewaltsam auf die Lastwagen verfrachtet. Im Bremer Hafen arbeiteten viele Kommunisten und Sozialdemokraten, also gab es, zumindest in den ersten Jahren, ziemlich viele solcher Aktionen. Erst wenn Lastwagen verschwunden waren, trauten sich die eingeschüchterten Anwohner wieder auf die Straße. Sie wagten kaum, miteinander zu sprechen, weil niemand wusste, wer diejenigen, die abtransportiert worden waren, denunziert hatte.
Viele Male verließ Berni die Wohnung und sah Blutlachen auf der Straße. Das war nun ein Teil seines alltäglichen Lebens, ebenso wie die Kundgebungen und die Aufmärsche. Aber was hätte er dagegen schon ausrichten können? Oder gegen das Verschwinden seiner jüdischen Mitschüler, die nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze 1935, vor allem dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, nach und nach von den staatlichen Schulen ausgeschlossen wurden? Wie für die meisten Menschen im Reich war auch für Berni die Antwort: nichts. Man lebte weiter sein Leben, und für Berni bedeutete das in erster Linie Sport.
Kaum eine Woche verging, in der nicht irgendein Sportturnier anstand: Leichtathletik, Völkerball, Handball oder Fußball. Egal ob lokale, regionale oder nationale Wettbewerbe, sämtliche Veranstaltungen wurden vom Reichsministerium für Sport organisiert und auf lokaler Ebene von den Nazis aus der Hitlerjugend begleitet. Lediglich der Fußball konnte sich anfangs noch ein wenig der staatlichen Einmischung entziehen. Bei seiner TuRa-Mannschaft spielte Berni Mittelläufer, manchmal auch linker Läufer, und fiel nicht nur durch sein Talent, sondern ebenso durch seine unbändige Angriffslust und seinen unbedingten Siegeswillen auf. Seine Eltern hätten diese Wesenszüge vielleicht dämpfen können, doch er gefiel sich darin, genau die Charaktereigenschaften zur Schau zu stellen, die von der HJ so sehr gepriesen wurden.
Berni glänzte bei fast jedem Auftritt und gewann zahllose Wettbewerbe. Wenn er nicht selbst Fußball spielte, war er ein begeisterter Zuschauer. Sonntags schlang er nach dem morgendlichen Training sein Mittagessen hinunter, bevor er sich mit seinen Kameraden auf den Weg zum Stadion von Werder Bremen jenseits der Innenstadt machte. Jeder von ihnen hatte zehn Pfennige für die Straßenbahn und zehn weitere für den Eintritt dabei. Manchmal nahmen sie die Bahn, meistens aber liefen sie die 40 Minuten zum Stadion und nach dem Spiel die 40 Minuten wieder zurück. Am Stadion angekommen, überlegten sie sich, ob sie den Eintritt bezahlen oder lieber versuchen sollten, unter dem Zaun hindurchzukriechen. Sie kannten sämtliche Lücken, aber so einfach war es nicht, denn mit den Sicherheitskräften war nicht gut Kirschen essen. Trotzdem kamen sie meistens irgendwie hinein und gaben das Geld lieber für Eis aus, ein Luxus, den sie sich sonst nicht erlauben konnten. Außerdem betrieb Bernis Onkel Karli in der Nähe des Stadions eine Gaststätte. Onkel Karli war ein nachsichtiger Mann, der immer herzlich lachen musste, wenn er die ganze Bande nach den Spielen auf der Straße herumlungern sah. „Kommt rein“, winkte er sie heran und spendierte ihnen etwas zu trinken und dazu manchmal ein belegtes Brot.
Berni fand, dass sein Leben immer besser wurde. 1937, mit 14 Jahren, verließ er die Schule, außerdem wechselte er zur eigentlichen Hitlerjugend. Inzwischen wurde dies von den Jugendlichen ohnehin erwartet. Im „Gesetz über die Hitler-Jugend“ hieß es: „Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefasst.“ Und weiter: „Die gesamte deutsche Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen.“ Neue Mitglieder wurden meist am 20. April, Hitlers Geburtstag, eingeführt.
In diesem Jahr 1937 passierte etwas, das Bernis Schicksal stark beeinflussen sollte: Er wurde als einer vor nur 60 Jungen aus der Region Bremen ausgewählt, um ein Jahr fernab von zu Hause auf dem Land zu verbringen, als Teil einer nationalen Maßnahme der Hitlerjugend namens „Landjahr“. Sein außergewöhnliches sportliches Talent, gepaart mit seinem arischen Aussehen, hatte ihm diese Ehre beschert. Die Jungen lebten ein Jahr lang auf einem Schloss in Schlesien nahe der deutsch-tschechischen Grenze, um auf einem Bauernhof zu arbeiten.
Auch dies gehörte zu den Plänen der Nazis, neuen Lebensraum für das deutsche Volk zu erobern und in den Territorien, die die Deutschen im Ersten Weltkrieg eingebüßt hatten, die dort lebende deutsche Minderheit für ihre Sache zu gewinnen. Hitler hatte bereits 1923 in „Mein Kampf“ darüber geschrieben. Nun war er bereit, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Das Reich brauche Lebensraum als „Rohstoff- und Ernährungsbasis“, verkündete er bei einem geheimen Treffen in der Reichskanzlei am 5. November 1937 und offenbarte führenden Köpfen des Nazi-Regimes seine Kriegspläne. Reichswehrminister Werner von Blomberg war ebenso wenig überzeugt davon wie Außenminister Konstantin von Neurath und der Oberbefehlshaber des Heeres, Werner von Fritsch. Binnen weniger Monate waren sie, ebenso wie 16 weitere Generäle, die nicht den gewünschten Eifer an den Tag legten, ihrer Ämter enthoben. „Sie sollten Krieg, Krieg, Krieg wollen“, forderte Hitler.
Berni hatte unterdessen seine Einladung erhalten, lief freudig nach Hause und wedelte aufgeregt mit dem Formular, das von beiden Eltern und ihm selbst unterschrieben werden musste. Sein Vater war noch nicht daheim; seine Mutter las sich das Schreiben sorgfältig durch, dann setzte sie sich an den Küchentisch und kämpfte mit den Tränen.
„Was ist denn los?“
Sie schüttelte nur den Kopf.
„Freust du dich nicht? Nur 60 von uns wurden ausgewählt. Das ist eine große Ehre, Mutti.“
„Du bist erst 14.“
„Fast 15.“
„Kommst du in den Ferien heim?“
„Nein“, antwortete er bockig.
Also warteten sie auf den Vater.