Berni besuchte weiterhin die Humannschule, die inzwischen Pestalozzischule hieß, und hatte immer noch seinen ausgezeichneten Klassenlehrer, Herrn König, der nach englischer Art Knickerbocker und Tweed-Jacke trug und die traditionellen Werte deutscher Erziehung verkörperte. Er mochte Berni, so wie viele engagierte Lehrer ihre klügsten Schüler besonders mögen, aber nach und nach schlichen sich Veränderungen ein. König war kein Freund von Hitler, und vor 1933 sprach er dies auch ganz offen aus. Doch bald lernte er, den Mund zu halten. Im April, kaum drei Monate nach der Machtübernahme, wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen. Von nun an konnte jeder Lehrer, der für unzuverlässig befunden wurde, zur Befragung durch die Gestapo vorgeladen und kurzerhand entlassen werden. Lehrern war vorerst nicht vorgeschrieben, in die Partei einzutreten, weil die Nazis wussten, dass sie damit auf großen Widerstand gestoßen wären. Stattdessen erschien bald eine neue Art von Lehrer an den Schulen, ein „Berater“, der Parteimitglied war und die kaum verhohlene Aufgabe hatte, die Kollegen im Auge zu behalten. Sämtliche Schulleiter und Rektoren waren indes verpflichtet, der Partei beizutreten. Dr. Schweers ließ sich nicht lange bitten, denn die Prinzipien der Partei entsprachen seinem Naturell.
Ebenso wie Bernis Vater wollte auch Herr König nicht seine berufliche Existenz verlieren; viele seiner Kollegen ereilte dieses Schicksal. Als Erstes wurden die Juden entlassen, danach traf es die Schulleiter und Rektoren, die sich weigerten, in die Partei einzutreten. Und schließlich jeden Lehrer, der es wagte, die Partei zu kritisieren. Von nun an behielt Herr König seine Gedanken also für sich, was ihn aber nicht daran hinderte, weiterhin ein guter Lehrer zu sein. Doch es fiel ihm schwerer als zuvor, denn er musste lernen, mit einem ständigen Begleiter zu leben und zu arbeiten: der Angst, der wirkungsvollsten Waffe der Nazis. Er musste zudem den neuen, von der Partei abgesegneten Lehrplan übernehmen, der sich an eine deutsche Jugend wandte, die nach dem Willen der Nazis dazu ausersehen war, mit der Fahne des Vaterlands voran in das „Tausendjährige Reich“ zu marschieren. Fächer ohne ideologische Bedeutung wurden herabgestuft. Auf dem Lehrplan standen stattdessen rassische Biologie, Erdkunde, die sich insbesondere dem Thema Lebensraum sowie dem Reichsterritorium vor dem Ersten Weltkrieg widmete, weiterhin deutsche Geschichte, Mythen und Militärhistorie, insbesondere Bismarck, sowie Unterricht über die Juden und die Art und Weise, wie sie das Reich angeblich schändeten und zerstörten. Und natürlich Sport, jede Menge Sport. Kraft durch Freude.
Das alles gefiel Berni. Akademische Studien erschienen plötzlich langweilig und unwichtig, und er, der klügste Junge seiner Klasse, kümmerte sich von nun an fast nur noch um den Sport. Er war der beste Fußballer, der beste Leichtathlet und der Beste beim Völkerball, wo er sich gegen Jungen durchsetzte, die zwei oder drei Jahre älter waren als er. Völkerball war ein Sport so recht nach dem Geschmack der Nazis. Dabei stehen sich zwei Mannschaften auf je einer Hälfte des Feldes gegenüber und versuchen, die gegnerischen Spieler mit dem Ball zu treffen. Ein getroffener Spieler kann nur ins Spiel zurückkommen, wenn einer seiner Mitstreiter einen Spieler der gegnerischen Mannschaft trifft. Manchmal ist nur noch ein Spieler einer Mannschaft übrig, der es dann mit vier oder fünf gegnerischen Spielern aufnehmen muss. Mit seinen großen Händen, flinken Augen und athletischen Sprüngen war Berni oft der letzte verbliebene Spieler seiner Mannschaft, und oft genug gewann er trotzdem noch. Schon damals zeigten sich die außergewöhnlichen Fähigkeiten, die ihn eines Tages, weit in der Zukunft und weit weg von zu Hause, zum besten Torwart der Welt machen sollten.
War der Sport zuvor nur einer von vielen Punkten im Lehrplan gewesen, wurde er nun von den Nazis zur Hauptsache erhoben, zum Gipfel der Leistungsfähigkeit, zu einer Sache von nationaler Bedeutung. Und Berni, der Junge, der schneller laufen, höher springen, härter schlagen und jeden Ball fangen konnte, wurde zum unumstrittenen Star, nicht nur seiner Klasse, sondern der ganzen Schule. Und jetzt, 1933, durfte er der Hitlerjugend beitreten.
KAPITEL 2
In der Hitlerjugend
Im Oktober 1933 feierte Berni seinen zehnten Geburtstag und war damit alt genug, den „Pimpfen“ beizutreten. Das war die jüngste Abteilung der „HJ“, der Hitlerjugend, die nach der Machtübernahme der Nazis rasch alle anderen Jugendorganisationen in Deutschland verdrängte. Seine herausragende athletische Begabung und seine blonden Locken machten Berni zu einem Musterbeispiel der „arischen Rasse“. Plötzlich wurde er von allen möglichen Leuten, die zuvor keine Notiz von ihm genommen hatten, gelobt und umschmeichelt. Er konnte nicht ahnen, dass die HJ von Anfang an, schon lange vor 1933, als Teil einer Kriegsmaschinerie gedacht war. Die Nazis sahen sie als Ausbildungsstätte, die aus den Jungs harte Männer und zähe Soldaten machen sollte. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hatte die HJ dem Reich fast acht Millionen Soldaten zugeführt. Und viele von ihnen kämpften tatsächlich „bis zum letzten Atemzug“, ergaben sich niemals und opferten ihr Leben mit fanatischer Hingabe „für Führer und Vaterland“. Am schlimmsten erging es dem Jahrgang 1923, dem auch Berni angehörte; nur wenige Jungen, die in diesem Jahr zur Welt gekommen waren, würden den Krieg überleben. Ab dem Alter von zehn Jahren wurden sie darauf gedrillt, bis zum bitteren Ende zu kämpfen.
Aber 1933, lange vor Krieg und Zerstörung, konnte Berni es kaum erwarten, in die Hitlerjugend eintreten zu dürfen. Seine Mutter, die selbst eine gute Schulbildung genossen hatte, äußerte ihre Vorbehalte. Ihr kluger Junge, ihr Augenstern, kümmerte sich in jenen Tagen herzlich wenig um seine Schulbücher. Doch von Bernis Bitten und der Propaganda der Nazis weichgeklopft, kratzten seine Eltern schließlich das Geld für die Uniform zusammen: kurze schwarze Hosen, khakifarbenes Hemd, schwarzes Halstuch und Lederknopf, dazu ein Abzeichen mit dem Hakenkreuz der Nazis. Berni trug die Uniform voller Stolz, als er, das Haar hinten und an den Seiten kurz geschoren, vor der Hakenkreuzfahne zackig den Hitlergruß entbot und folgenden Eid ablegte: „Vor der Blutfahne schwöre ich, alle meine Kraft und Stärke dem Erretter unserer Nation, Adolf Hitler, zu weihen. Ich bin willens und bereit, mein Leben für ihn zu geben, so wahr mir Gott helfe.“ Offenbar wunderte sich in der HJ niemand darüber, dass ein kleiner Junge, der sich für Sport und andere Aktivitäten begeisterte, feierlich schwören sollte, sein Leben für den Führer zu geben.
1932 zählte die Hitlerjugend 107.950 Mitglieder. 1933, nach der Machtübernahme, stieg diese Zahl rasch auf 2,3 Millionen an, bei insgesamt 7,5 Millionen Jugendlichen im Reich. 1936 waren es bereits 5,4 von 8,8 Millionen Jugendlichen. 1939, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, waren es 8,7 von 8,8 Millionen Jugendlichen, also fast alle. Die Jungen, die in Wochenschauaufnahmen aus dem Frühjahr 1945, nur wenige Wochen vor Kriegsende, mit einem zitternden, von Krankheit gezeichneten Hitler zu sehen sind, waren kaum 14-jährige Jungen, die noch angesichts der sicheren Niederlage stolz ihren Führer grüßen. Sie waren die letzte Generation der Hitlerjugend, der finale Atemzug des Traums vom „Tausendjährigen Reich“.
Der große Mitgliederzuwachs im Jahr 1936 war kein Zufall. Bereits 1934 hatte die Partei an jeder Straßenecke die folgende Proklamation verlauten lassen:
„Die Hitlerjugend tritt heute mit der Frage an Dich heran: Warum stehst Du noch außerhalb der Reihen der Hitlerjugend? Wir nehmen doch an, dass Du Dich zu unserem Führer Adolf Hitler bekennst. Dies kannst Du jedoch nur, wenn Du Dich gleichzeitig zu der von ihr geschaffenen Hitlerjugend bekennst. Es ist nun an Dich eine Vertrauensfrage: Bist Du für den Führer und somit für die Hitlerjugend, dann unterschreibe die anliegende Aufnahmeerklärung. Bist Du aber nicht gewillt, der HJ beizutreten, dann schreibe uns dies auf der anliegenden Erklärung … Wir richten heute einen letzten Appell an Dich. Tue als junger Deutscher Deine Pflicht und reihe Dich bis zum 31. Mai. d. J. ein bei der Jungen Garde des Führers. Heil Hitler!“
Daneben standen Mitglieder der HJ und verteilten Aufnahmeformulare. Den Schulen wurde befohlen, in jedem Klassenraum Listen aufzuhängen, auf denen zu lesen war, welche Jungen Mitglieder waren und welche nicht. Diejenigen, die nicht auf der Liste standen, erhielten bald darauf einen Brief mit einem Aufnahmeformular. Vater und Sohn hatten zu unterschreiben.
1936