Vater und Mutter konnten es nicht fassen. Natürlich wussten sie, dass der sonst so unbeschwerte Berni bisweilen die Beherrschung verlor: Es kam vor, dass er den kleinen Karl Heinz knuffte, wenn der ihn zu sehr ärgerte, und manchmal meckerte er seine Mutter an. Aber im Grunde war Berni ein fügsamer Junge, der klaglos Besorgungen erledigte und im Haushalt half und an Tagen, wenn sich seine Mutter nicht wohlfühlte, die Treppe bohnerte oder die Wäsche mangelte. In der Schule nahm er nur selten an Raufereien teil und verausgabte sich stattdessen lieber beim Sport. Doch so sehr sich die Eltern beim Rektor für ihren Sohn einsetzten, es half nichts. Bis Herbert Behrens, ein ansonsten schweigsamer Junge, seinen Mut zusammennahm und die ganze Geschichte erzählte: dass nicht Berni den Kampf angefangen habe, sondern Rainer, und dass Berni dreimal versuchte habe, einer Rauferei aus dem Wege zu gehen, und dass Rainer ihn immer wieder herausgefordert habe, bis Berni schließlich darauf einging. Herbert rettete Berni die Haut und zementierte damit die Freundschaft zwischen den beiden sonst so unterschiedlichen Jungs. Doch später am Tag, als Berni daheim in die Küche kam, verabreichte ihm seine Mutter mit ihrem Holzlöffel eine tüchtige Abreibung. Sein Vater hingegen nahm Berni beiseite und gratulierte ihm: „Gut gemacht, mein Junge. Lass dich niemals unterkriegen.“ Als Berni Jahre später auf sein Leben zurückschaute und an die Worte seines Vaters dachte, war er überzeugt: „Ja, da hatte er recht. Und ich habe mich nie unterkriegen lassen.“
Berni trieb seit seinem fünften Lebensjahr Sport, zunächst bei Blau-Weiß Gröpelingen, gelegentlich ging er zum Turnen und Handballspielen auch zum Arbeiterverein VSK Gröpelingen. Aus diesen und anderen Vereinen wurde später TuRa Gröpelingen (heute: TuRa Bremen), und dort ist Bernis Mitgliedschaft seit 1933 registriert. Die erste Mannschaft des Vereins machte sich bald einen Namen und bestritt Spiele in ganz Norddeutschland. Die Jungs der Juniorenmannschaften durften manchmal mitfahren, um zuzuschauen und zu lernen, um die Atmosphäre zu erleben und davon zu träumen, es den Vorbildern eines Tages gleichzutun. Für Bernie war TuRa ein Verein fürs Leben und Sport sein Lebensinhalt schlechthin.
Obwohl zu Hause also das Geld knapp war, genoss Berni dennoch eine glückliche Kindheit. Er glaubt, dies seinen Eltern zu verdanken, die ihm alles gaben, was ein Junge braucht: Liebe, Disziplin und ausreichend Freiheit. Vielleicht liebte ihn seine Mutter ein bisschen „zu sehr“, und sie hatte sicherlich den größeren Einfluss auf ihn. Doch später wurde ihm klar, dass auch sein Vater erheblichen Anteil an seiner Entwicklung hatte. Als Berni klein war, nahm sein Vater ihn häufig zu Fußballspielen mit. Anschließend besprachen sie auf dem Heimweg in der Straßenbahn jede Kleinigkeit des Spiels: wer gut gespielt hatte und wer nicht, welche Mannschaft die bessere Taktik hatte, welcher Torhüter die besten Paraden gezeigt hatte – sie wälzten jeden Aspekt, der ihnen in den Sinn kam, wie zwei alte Hasen. Der Vater hatte selbst in seiner Jugend aktiv gespielt, und wäre der Erste Weltkrieg nicht dazwischengekommen, hätte er sicher weitergespielt, aber nach zwei Jahren in den Schützengräben hatte er die Begeisterung daran verloren.
An Sonntagen im Sommer ging die Familie gerne zum Bootfahren in den Bürgerpark oder unternahm eine Dampfschifffahrt auf der Lesum. Die Mutter packte ein Picknick ein, das sie zu viert am Ufer aßen, während sie den Booten und Schiffen zusahen, bevor sie mit dem Dampfer zurückfuhren. Das Schönste aber war, dass Berni jeden Sommer, seit er sieben war, für zwei Wochen zu seinem Onkel Hans, dem Bruder seines Vaters, in die Nähe von Hameln fahren durfte. Dorthin reiste er stets allein, vielleicht, weil nicht genug Geld da war, um gemeinsam zu fahren. Jedenfalls wurde Berni jedes Jahr von seinen Eltern zum Hauptbahnhof gebracht und am Zug verabschiedet. Dem Jungen war nicht bange, er war nur aufgeregt. In Hameln spielte er den ganzen Tag von morgens bis abends mit seinem Cousin Hansi, der später als Bomberpilot diente und über dem Ärmelkanal abgeschossen wurde. Nach zwei Wochen stieg er wieder in den Zug und reiste allein zurück nach Bremen. Berni sehnte sich nach Freiheit, und die bekam er auch.
Unterdessen fanden in Deutschland bedeutende politische Umwälzungen statt, aber was kümmerte es Berni? Er hatte noch nie von Gustav Stresemann gehört, dem geachteten deutschen Politiker, der vor einiger Zeit den Friedensnobelpreis erhalten hatte, und er konnte nicht wissen, dass mit dessen Tod im Oktober 1929 eine weitere Hoffnung auf eine stabile Republik verschwand und der Weg für die Nazis bereitet war. Die NSDAP praktizierte eine Politik des Terrors und initiierte viele der Straßenkämpfe und gewaltsamen Proteste, die die Weimarer Republik erschütterten. Nun begann ihre endlose Propaganda über das Unrecht des Versailler Vertrages, die Unfähigkeit der Weimarer Regierung und die Niedertracht der Juden, Früchte zu tragen. Bei den Reichstagswahlen der folgenden Jahre wurde sie zur stärksten Partei und Adolf Hitler schließlich am 30. Januar 1933 mit den Stimmen der konservativen Parteien zum neuen Reichskanzler ernannt. Durchs dunkle Berlin marschierte eine endlose Parade mit Schergen der SA und der SS, um Hitler zu huldigen, der am offenen Fenster des Kanzleramtes stand und den Gruß mit ausgestrecktem Arm erwiderte. Über Nacht änderte sich in Deutschland alles.
Auch im Haushalt der Trautmanns machte sich der politische Machtwechsel recht bald bemerkbar. Carl Trautmann absolvierte noch immer seine Doppelschicht bei Kali-Chemie, die sozialen Leistungen verbesserten sich etwas, aber die Arbeitsabläufe wurden nun rigide organisiert. Streiks waren verboten, sozialdemokratische oder kommunistische Agitatoren wurden grausam verfolgt. Das Heer der Erwerbslosen wurde ans Arbeiten gebracht und baute Autobahnen, Fabriken und Bahnlinien – alles mit Blick auf den bevorstehenden Krieg, von dem der einfache Mann auf der Straße noch nichts ahnte. Vielleicht hätte er klarer gesehen, wenn er das bereits 1924 verfasstes Buch „Mein Kampf“ gelesen hätte. Darin behauptet Hitler wieder und wieder, die einzige Lösung für Deutschlands Probleme seien der Krieg und die Eroberung neuer Lebensräume. „Wir […] weisen den Blick nach dem Land im Osten“, schrieb er. „Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland […] denken. […] Das Riesenreich im Osten ist reif für den Zusammenbruch.“ Absoluten Vorrang hatte nun die Wiederbewaffnung und die „restlose Unterordnung aller sonstigen Belange […] unter die einzige Aufgabe der Vorbereitung eines kommenden Waffenganges“, verkündete Hitler bereits neun Jahre vor der Machtübernahme der Nazis. Aber wenngleich viele Menschen „Mein Kampf“ nach 1933 im Regal stehen hatten – es war so weitschweifig und krude verfasst, dass es nur wenige wirklich gelesen oder ernst genommen hatten.
Vor jedem offiziellen Gebäude flatterten nun die schwarz-weiß-roten Hakenkreuzfahnen der Nazis, auch in den Bremer Hafenbetrieben. Wann immer jemand ein Büro oder Lagerhaus betrat, hatte er den Hitlergruß zu entbieten. Wurde das „Heil Hitler!“ nicht mit dem gebotenen Eifer vorgetragen, konnte der Übeltäter schon bald zur Befragung ins Bremer Hauptquartier der Gestapo, der „Geheimen Staatspolizei“, vorgeladen werden, worauf oft die Entlassung oder Schlimmeres folgte. Kali-Chemie erhielt derweil eine goldene Fahne für die rasche und gründliche Übernahme der Nazi-Reformen, unter anderem die Vorgabe, dass jeder Arbeiter einem Verein beitreten und ein akzeptables Hobby ausüben sollte. Vater Trautmann, der gerne musizierte, machte bei der Werkskapelle mit und spielte die Flöte, wenn in militärischem Gleichschritt durch den Hafen marschiert wurde, um wichtige Ereignisse im Nazi-Kalender zu begehen. Wenn er über die Veränderungen nachdachte, versuchte er die guten und schlechten Seiten abzuwägen: Gut war, dass es weniger Arbeitslose gab; zudem zog er Disziplin und Ordnung dem politischen Chaos vor; er nahm einen Großteil der Nazi-Propaganda über die Juden, die Kommunisten und das Unrecht des Versailler Vertrages für bare Münze. Vor allem aber hatte er Angst davor, seine Arbeit zu verlieren. Letztendlich trat er, wenn auch ohne große Begeisterung, in die Partei ein.
Auch Bernis Mutter fand, dass das Leben unter den Nazis sowohl gute als auch schlechte Seiten hatte. Die Wirtschaft erholte sich, und die Preise in den Geschäften waren wieder einigermaßen stabil. Es gab keine gefährlichen Kundgebungen mehr. Sie fühlte sich sicherer in den Straßen. Und es herrschte so etwas wie vorsichtiger Optimismus und ein neuer Stolz auf die deutsche Nation. Deutschen Müttern, die dem Reich und Führer vier oder mehr Kinder