Herr Trautmann lachte nur. „Das macht nichts, Berni. Das ist nicht so wichtig.“
Nein, dachte Berni, das stimmt nicht; es ist sehr wohl wichtig. Es ist wichtig, sich nicht ausnutzen und nicht herumschubsen zu lassen. Es ist wichtig, stark zu sein, stark wie Eisen. Sein Vater war schwach, das war ihm jetzt klar: Er war schwach, weil er gemocht werden wollte. Berni nahm es nicht als einfache Freundlichkeit wahr und verstand nicht, dass sein Vater die Runden gerne bezahlte, weil er, da er Doppelschichten absolvierte, mehr verdiente als seine Trinkkumpanen – sofern sie überhaupt Arbeit hatten – und dass sie alte Kameraden aus dem Weltkrieg waren, die das Leid und die Qualen, die ihr Leben zerstört hatten, gemeinsam durchgestanden hatten. Berni sah in seinem Vater nur einen verzagten Mann, der, sobald er zu Hause war, seine Frau anbrüllte. Und sie nahm es einfach hin; das war das Schlimmste.
Berni konnte nicht wissen, dass es von Beginn an das Ziel der HJ war, Jungen von ihren Elternhäusern zu entfremden. Sie ermutigte sie dazu, ihren Eltern mit Überheblichkeit zu begegnen, denn sie wollte ihren eigenen Einfluss vergrößern, bis sich die Jungs nur noch dem Führer gegenüber zur Loyalität verpflichtet fühlten. Manche widersetzten sich, aber Berni gehörte nicht dazu. Ja, sein Vater war ein schwacher Mann, ein verzagter Mann, der stets Angst davor hatte, seine Arbeit zu verlieren; aber da war noch etwas anderes, viel Schlimmeres, über das man besser nicht sprach: Sein Vater hielt sich mit Lobhudeleien auf den Führer zurück. Aus Sicht der HJ war das beinahe gleichbedeutend mit Hochverrat. Berni ging nicht so weit wie einige seiner Kameraden bei der HJ, die ihre Eltern denunzierten, obwohl sie wussten, dass Vater oder Mutter dafür verhaftet werden konnten. Aber er verlor den Respekt vor seinem Vater und erlangte ihn auch nie wieder zurück.
Seine Mutter merkte, was mit ihrem Jungen passierte, konnte aber nichts dagegen tun. Sie sah Berni immer seltener, weil er die meisten Wochenenden bei den Treffen oder Zeltlagern der HJ verbrachte oder an einem der zahllosen, ebenfalls von der HJ organisierten Sportwettbewerbe teilnahm. Jedes Jahr gewann Berni die gleichen drei Wettbewerbe: Weitsprung, 60-Meter-Lauf und Granatenwerfen. Schließlich wurde er Meister von ganz Norddeutschland und von jedermann als herausragendes Beispiel eines arischen Jünglings gelobt und gerühmt. Auf seine Eltern hörte er inzwischen kaum noch. Er bemerkte nicht, dass es seiner Mutter das Herz brach, ihn auf diese Weise zu verlieren.
„Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln“, verkündete Adolf Hitler 1937 bei einer Rede in Reichenberg. „Wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück […], sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, […] in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.“
KAPITEL 3
Nach Schlesien
Im August 1936 fanden die Olympischen Spiele in Berlin statt. Berni saß am Küchentisch vor dem Volksempfänger, einem einfachen Radiogerät für alle, die sich nichts Besseres leisten konnten.
Ludwig Stubbendorf hatte soeben auf seinem Pferd Nurmi Gold für Deutschland im Vielseitigkeitsreiten gewonnen, vor dem Amerikaner Earl Foster Thomson auf Jenny Camp, und das Leben war schön. Berni langte über den Küchentisch und wuschelte durch das Haar seiner dreieinhalbjährigen Cousine Helga, die ein Marmeladenbrot aß, bevor es für sie Schlafenszeit war. Herr und Frau Trautmann hatten sie zwei Jahre zuvor ganz offiziell adoptiert. Sie war die Tochter von Friedas Schwester, aber wer der Vater war, wusste niemand so genau. Im Kinderzimmer stand nun ein zusätzliches kleines Bett, so dass man sich dort kaum noch bewegen konnte, aber Berni machte das nichts aus; er liebte Helga mit ihren weichen, blonden Locken und ihrem sonnigen Lächeln. Er fand sie wunderschön, unternahm Spaziergänge mit ihr und gab mit ihr bei seinen Freunden an.
„Komm schon! Komm schon!“, rief Berni über die knisternde Stimme des Kommentators hinweg, der fieberhaft die letzte Runde des 1.500-Meter-Laufs begleitete. Der Neuseeländer Jack Lovelock setzte soeben zu einem unwiderstehlichen Schlussspurt an und überholte Friedrich Schaumburg, eine der wenigen Medaillenhoffnungen des Reichs in den Laufwettbewerben, der aber auf der letzten Runde stark zurückfiel. Berni sprang erwartungsvoll auf, dann sank er enttäuscht in sich zusammen, den Kopf in den Händen. Was im Himmel war mit Schaumburg los? Warum hatte er nicht alles gegeben? Wie hatte er den Neuseeländer gewinnen lassen können?
Seine Mutter blickte lachend von ihrem Kochtopf auf.
„Das ist nicht komisch“, beschwerte sich Berni. Als Sportler wusste er, dass man ein guter Verlierer sein musste oder zumindest den Anschein erwecken sollte. Aber dies hier war wirklich schlimm. Dem Himmel sei Dank für Alfred Schwarzmann und Konrad Frey, die in den Turnwettbewerben am Seitpferd, den Ringen, am Sprung und am Barren die Konkurrenz in die Schranken wiesen. Zwei Gold- und drei Silbermedaillen hatten sie bereits gewonnen, und jedes Mal, wenn sie mit zum Hitlergruß gestrecktem Arm und zu den Klängen von „Deutschland, Deutschland über alles“ auf dem Podium standen, um ihre Medaillen entgegenzunehmen, liefen Berni wohlige Schauer über den Rücken.
Dennoch war es für Berni erstaunlich, mit welcher Überlegenheit die USamerikanischen Schwarzen sämtliche Laufwettbewerbe für sich entschieden. Sein Vater hatte am 24. Juli zugesehen, wie die SS Manhattan mit dem amerikanischen Olympiateam an Bord in Bremerhaven einlief. Insgesamt waren es 381 Athleten, darunter 18 Schwarze, alle in weißen Hosen, blauen Jacken und Strohhüten gekleidet. Vom Bremer Hauptbahnhof ging es mit dem Zug weiter nach Berlin. Die Strecke durch Bremen war mit hunderten, vielleicht sogar tausenden Hakenkreuzfahnen geschmückt, genug jedenfalls, um einen großartigen Anblick zu bieten und einen Jungen wie Berni stolz darauf zu machen, Deutscher zu sein.
Dem US-Team blieb vor dem Beginn der Spiele nur eine Woche, um sich von der neuntägigen Überfahrt zu erholen. Die meisten Laufwettbewerbe fanden bereits in der ersten Woche statt, aber davon ließen sie sich nicht beeindrucken: Die 18 Athleten errangen insgesamt 14 Medaillen, darunter acht goldene, vier allein durch Jesse Owens. Er siegte über die 100 Meter in der olympischen Rekordzeit von 10,3 Sekunden; sein schwarzer Mannschaftskamerad Ralph Metcalfe setzte sich gegen den Holländer Martinus Osendarp im Kampf um den zweiten Platz durch. Owens gewann außerdem Gold über 200 Meter, wobei er mit unglaublichen 20,7 Sekunden einen neuen Weltrekord aufstellte, sowie im Weitsprung, wo er 8,06 Metern erreichte und damit als erster Mensch bei Olympischen Spielen über acht Meter sprang. Darüber hinaus gewannen die beiden farbigen Amerikaner Archie Williams die 400 Meter und John Woodruff den 800-Meter-Lauf, außerdem die Mannschaft mit Owens und Metcalfe in der fabelhaften Weltrekordzeit von 39,8 Sekunden die 4 × 100-Meter-Staffel. Berni war hin- und hergerissen: Der Sportsmann in ihm war voller Bewunderung, aber der Hitlerjunge war geschockt. Warum waren „diese Neger“ so gut im Laufen und Springen, in eben jenen Disziplinen, die gerade er, Berni Trautmann, so gut beherrschte? Das war verwirrend und entsprach ganz und gar nicht den Lehren von der „Überlegenheit der arischen Rasse“, die ihm in der Hitlerjugend eingetrichtert wurden.
Die Übertragung wurde für eine von Hitlers Ansprachen unterbrochen. Diese Reden waren immer gleich, ausschweifend und langweilig. Berni stand auf und schaltete den Empfänger aus. Zwar wusste er, dass er das nicht tun sollte, aber er schenkte den Reden selten seine Aufmerksamkeit. Jedenfalls, sofern er nicht in der Schule war, wo sämtliche Schüler in der Aula antreten mussten, um gemeinsam mit den Lehrern, die auf einem Podium neben dem in voller Nazi-Montur gekleideten Rektor Schweers saßen, der Radioübertragung zu lauschen.
Als sein Vater nach Hause kam, setzten sie sich zusammen an den Küchentisch und studierten in den „Bremer Nachrichten“ die Ergebnisse der Spiele.
„Diese Neger“, sagte Herr Trautmann. „Wir können sie einfach nicht schlagen.“
„Warte nur, bis ich dabei bin“, entgegnete Berni großspurig; er glaubte wirklich, es schaffen zu können.
Ein paar Wochen später nahm Herr Trautmann Berni mit ins Alhambra-Kino in der Bremer Innenstadt, um sich die Wochenschauberichte