Seine Schule, die Humannschule, befand sich nur 500 Meter die Wischhusenstraße hinab, und Berni konnte in zwei Minuten dorthin laufen. 1931 war er der Neue in seiner Klasse, denn seine Familie war gerade erst von Walle hergezogen, und er erfuhr bald am eigenen Leibe, dass es in seiner neuen Umgebung viel rauer zuging. In jeder Klasse gibt es einen Raufbold, der alle anderen schikaniert, und in Bernis Klasse war das Rainer. Rainer galt als harter Bursche, der Platzhirsch in der Klassenhierarchie, und er hatte nicht die Absicht, das Feld zu räumen. Berni ging jedem Ärger aus dem Weg, und anfangs gab es keinerlei Probleme. Aber je mehr seine natürlichen Begabungen zu erkennen waren, desto angesehener wurde er in der Klasse. Sein Klassenlehrer, Herr König, mochte ihn, weil er klug war und stets einer der drei Besten in der 40-köpfigen Klasse, und die anderen Jungen mochten ihn, weil er der beste Sportler der Klasse und immer zu Streichen aufgelegt war. So stahl er beispielsweise Äpfel aus dem benachbarten Obstgarten, erzählte Witze über die Lehrer oder tauschte Nachrichten aus mit Richard Hohnemeyer oder Herbert Behrens, seinem Tischnachbarn. Mit anderen Worten: Berni war beliebt, und Rainer schmeckte das überhaupt nicht. Zwangsläufig kam es zur Konfrontation, ohne dass Berni etwas dagegen hätte tun können.
Eines Morgens, nicht lange nach der Kundgebung, wartete Rainer vor der Schule auf Berni.
„Wir treffen uns nach der Schule und dann sehen wir, wer der Chef ist“, erklärte Rainer und hielt Berni seine geballte Faust vor die Nase.
„Kann nicht“, antwortete Berni. „Ich muss Vati sein Mittagessen zur Arbeit bringen.“
„Besser du kommst“, drohte Rainer.
„Kann nicht“, sagte Berni und ging ins Schulgebäude.
Er hatte nicht gelogen. Weil sein Vater bei Kali-Chemie eine Doppelschicht arbeitete, konnte er nicht zum Mittagessen nach Hause kommen. Also brachte Berni ihm das Essen, das seine Mutter zubereitet hatte. Bis zum Hafen brauchte er mit dem Fahrrad eine halbe Stunde, doch das machte ihm nichts aus. Er jagte die Wischhusenstraße hinunter und über die Heerstraße, dann die gepflasterte Straße hinab zum Hafen, die Henkelmänner schaukelten am Lenker – mal gab es Suppe und Kartoffeln, mal Kartoffeln und Suppe, manchmal eine Mettwurst. Wenn er es richtig abpasste, war die Eisenbahnschranke am Hafeneingang oben, und er konnte einfach über die Schienen hinwegsausen, an den Wachposten am Tor vorbei direkt hinunter zum Kai von Kali-Chemie, und dann längs des roten Backsteingebäudes der Verwaltung zur Kantine, wo sein Vater und die anderen Männer in der halbstündigen Pause an kahlen Holztischen saßen und ihr Essen einnahmen, bevor die nächste Schicht begann.
Bremen besaß seit Langem einen blühenden Hafen, der Handel mit der ganzen Welt betrieb, und hatte sich stets eine gewisse politische Unabhängigkeit bewahrt, selbst im deutschen Kaiserreich. Die Stadt hielt noch an den Idealen der Weimarer Republik fest, lange nachdem andere deutsche Städte die Hoffnung aufgegeben hatten. Die Gewerkschaften besaßen im Hafen großen Einfluss – wenigstens bis die Nazis die Macht ergriffen. Danach wurden sie über Nacht aufgelöst und brutal zerschlagen.
Manchmal fuhr Berni die anderen Kais im Hafen entlang, vorbei an Schiffen aus Afrika, Amerika oder dem Nahen und Fernen Osten, Schiffe, die so groß waren, dass man nur den schwarzen, mit Nieten übersäten Rumpf emporragen sah, und die mit schweren Ketten und Seilen an den gewaltigen eisernen Pollern verankert waren, die sich den Kai entlangzogen. Die großen Passagierschiffe, die die Reichen und Schönen nach New York brachten, ankerten flussabwärts, an der Mündung der Weser in Bremerhaven. Manchmal radelte Berni an einem der großen eisernen Rümpfe vorbei und konnte Kaffee aus Afrika riechen oder Gewürze aus Indien; von einem anderen wehte süßlicher Tabakduft herüber oder der scharfe Geruch von Gummi. Dazu kam das Dröhnen und Krachen der anlegenden Schiffe, die lauten Rufe der Schauerleute und Ewerführer, der Lärm der Lastwagen und der Radau der Seemänner und Hafenarbeiter, die aus den Kneipen torkelten, fluchten und rauften – kurz: Es war eine Menge los.
Die Werke der Kali-Chemie besaßen einen eigenen Kai und Lagerhäuser am anderen Ende des Hafens. Carl Trautmann war kürzlich zum Vorarbeiter der Schauerleute befördert worden, eine durchaus verantwortungsvolle Position, denn wenn die Fracht nicht gleichmäßig verladen wurde, konnte das Schiff auf hoher See ins Schlingern geraten. Kali-Chemie handelte in erster Linie mit einem salzartigen Mineral, das zunächst als Düngemittel, später, in Vorbereitung auf den Krieg, zur Herstellung von Sprengstoff verwendet wurde. Kali-Chemie besaß hinter dem Kai eine eigene Fabrik, wo das Düngemittel entweder lose oder in Säcken verpackt über Förderbänder direkt auf Schiffe verladen wurde, die zu beiden Seiten des Kais angelegt hatten. Das war eine schmutzige Angelegenheit, und wenn Carl Trautmann abends seine Schicht beendete, war er von Kopf bis Fuß von einer dicken Staubschicht bedeckt, die seine Haare und Augenbrauen weiß erscheinen ließ und so ätzend war, dass das Leder seiner Stiefel sich stets binnen sechs Monaten beinahe aufgelöst hatte. Nach jeder Schicht schrubbte Trautmann sich in der Gemeinschaftsdusche des Werkes gründlich ab und säuberte seine verstopften Ohren und Nasenlöcher, bevor er sich auf sein Rad setzte und auf den Heimweg machte.
Berni war zu jung, um den harten Arbeitsalltag seines Vaters richtig einschätzen zu können, aber er freute sich, mit welchem Stolz sein Vater seine Pflichten als Vorarbeiter erfüllte. Mit Kladde und Bleistift bewaffnet ging er nach dem Anlegen eines Schiffes an Bord, um mit dem Ersten Offizier bei einem Schnaps die Ladelisten abzugleichen und die Beladung zu planen. Manchmal durfte Berni seinen Vater an Bord begleiten. Viele der Offiziere kannten ihn schon und winkten ihm von oben zu, wenn er unten auf dem Kai stand und auf seinen Vater wartete. Er wusste, wie er sich bei solchen Gelegenheiten zu verhalten hatte: Er redete nur, wenn er angesprochen wurde, und lächelte freundlich, so dass ihm mit etwas Glück einer der Offiziere einen Pfennig zuwarf, den er geschickt und mit einer Verbeugung und einem „Danke schön!“ auffing.
Berni hatte Rainer also die Wahrheit gesagt, aber es nützte nichts: Drei Tage nacheinander wartete Rainer am Eingang der Schule auf Berni und forderte ihn heraus, und jedes Mal wiederholte Berni die gleiche Geschichte, bis er am vierten Tag die Nase voll hatte. Es war typisch für Berni, dass er von einem Moment zum anderen seine Geduld und Beherrschung verlor. Jeder, der ihn kannte, hätte seinem Kontrahenten sagen können, dass Berni kaum zu bändigen war, wenn es erst einmal so weit gekommen war. Also sagte er schließlich: „Na gut“, und: „Morgen früh, vor der Schule.“ Der einfältige Rainer konnte es kaum erwarten, Berni, der viel kleiner war als er, in die Finger zu kriegen und dem Naseweis eine ordentliche Abreibung zu verpassen.
Seit einiger Zeit nahm Berni jeden Morgen vor der Schule an einem freiwilligen Englischunterricht teil. Auch das war typisch für ihn: Er war ganz wild darauf, Neues zu lernen, wenigstens zu diesem Zeitpunkt seines Lebens, bevor die Hitlerjugend kam und ihn vereinnahmte. Die Schule hatte die Erlaubnis seiner Eltern eingeholt, und zumindest sein Vater war überrascht, dass Berni die zusätzliche Arbeit auf sich nehmen wollte. Aber Berni hatte seinen Entschluss gefasst, er wollte eine Fremdsprache lernen. Obwohl es bedeutete, eine Stunde früher in der Schule zu erscheinen. Sein Freund Herbert Behrens war auch mit dabei, dazu sechs andere aufgeweckte Kerle aus seiner Klasse. Die Lehrerin war eine Frau Payman, die mit einem ansässigen Geschäftsmann aus England verheiratet war.
Am nächsten Morgen erschien Berni, bereit zum Kampf, bereits eine halbe Stunde vor dem Englischunterricht in der Schule. Als er in den Klassenraum kam, gab ihm Rainer, der hinter der Tür gelauert hatte, einen kräftigen Schlag ins Gesicht. Das war ein schwerer Fehler: Berni war sofort außer sich vor Wut, und nur wenig später hatte Rainer eine Schnittwunde am Kinn, ein blaues Auge und eine blutige Nase. Die anderen Schüler feuerten die Kämpfenden lautstark an, als Frau Payman in die Klasse kam, gerade noch zur rechten Zeit: Der große Rainer lag, schon beinahe bewusstlos, am Boden. Es gab zwei Tafeln im Klassenraum, eine große, die an der Wand befestigt war, und eine kleinere, die daran lehnte. Sie benutzten die kleinere Tafel als Bahre, um Rainer zur Krankenstation