„Was ist los?“ Er schaute von Berni zu seiner Frau und dann wieder zu Berni. Vater Trautmann las sich, langsam und schweigend, das Formular durch, dann bat er Berni, ihm Tinte und Federhalter zu holen, und unterschrieb, ohne ein Wort zu sagen, bevor er den Federhalter an seine Frau weitergab.
„Wir können nichts dagegen tun“, sagte er, stand auf und gab Berni einen Klaps auf den Rücken. „Gut gemacht, mein Junge“, fügte er hinzu, dann stellte er das Radio an, um die Abendnachrichten zu hören.
Typisch Vati, dachte Berni – es interessiert ihn eigentlich gar nicht. Die Unterschrift war eine reine Formalität, das wusste seine Mutter. Sie hatte keine Wahl, aber sie spürte, dass sie Berni nun verlieren würde, ihren Sohn, ihre Freude, das Licht ihres Lebens.
Schon zwei Wochen später war er fort. Die Eltern, Karl Heinz und Helga begleiteten ihn, im besten Sonntagsstaat, in der Straßenbahn zum Hauptbahnhof, um ihn zu verabschieden. Als Berni aus dem Zugfenster zum Abschied winkte, sah er seine Mutter auf dem Bahnsteig weinen, während sein Vater unbeholfen versuchte, sie zu trösten. Der Junge aber verspürte nichts als Euphorie und Vorfreude.
Das Schloss hieß Schweibersdorf und lag direkt an der Grenze zur Tschechoslowakei. Die Nächte verbrachten die Jungen in Schlafsälen, der Tagesablauf war nahezu militärisch organisiert. Um 5.30 Uhr wurde geweckt und die Fahne gehisst, danach mussten die Jungen abwechselnd Wachdienst schieben, von sechs bis zwei und von zwei bis zehn Uhr abends. Es gab Inspektionen und Drill, und jeden Morgen nach dem Appell auf einem behelfsmäßigen Exerzierplatz marschierten die Jungen in Kolonne zur Arbeit auf einem Bauernhof im nächstgelegenen Dorf. Den Rudelführern, zu denen auch Berni gehörte, gelang es allerdings bald, ein Pferd mit Karren für sich zu organisieren. Auf den Feldern wurden hauptsächlich Kartoffeln und Weizen angebaut, und die Jungs halfen überall mit: Sie bedienten den von Pferden gezogenen Holzpflug, ernteten Kartoffeln, misteten den Schweinestall aus und melkten Kühe. Außerdem mussten sie Putz- und Küchendienst leisten, eine schmutzige Angelegenheit, die alle hassten. An jedem Samstagmorgen gab es Unterricht, in dem sie einer der Jugendführer in Nazi-Ideologie, Rassenkunde sowie deutscher Mythologie und Geschichte unterwies, die üblichen Themen also, denen kaum jemand große Beachtung schenkte. Inzwischen gab es über 78.000 HJ-Führer, die in der Reichsführerschule in Potsdam und Hunderten weiteren kleineren Schulungsstätten im ganzen Reich ausgebildet wurden. Die meisten von ihnen wurden aus der HJ selbst rekrutiert. Das waren diejenigen, die sich in der Organisation hervorgetan hatten, die harten Burschen, die Platzhirsche. Es waren diejenigen, die später auch bei der SS Karriere machen würden.
Außer für ideologische Schulung waren die HJ-Führer auch für Disziplin, militärisches Training und Unterhaltung zuständig. Einer der Salons auf Schloss Schweibersdorf war zu einem kleinen Theater umfunktioniert worden, wo die Einheimischen eingeladen waren, einen Abend lang den Lehren der Nazipartei zu lauschen oder den Jungen der HJ zuzuhören, die statt der Arbeitskleidung nun wieder ihre schicken Uniformen trugen und alte deutsche Volkslieder oder Nazi-Märsche zum Besten gaben.
Der Bauer, der für die Hilfe auf seinem Hof nur mit politischer Zuverlässigkeit bezahlte, hieß Henning. Schon nach zwei Monaten verlor er allerdings fast die Hälfte seiner jugendlichen Arbeitskräfte. Die besten Sportler der Gruppe, zu denen natürlich auch Berni zählte, wurden in Mannschaften eingeteilt und reisten in den folgenden Monaten durch die östlichen Regionen des Reichs, die an Polen, die Tschechoslowakei und Österreich grenzten. Dort traten sie zunächst auf lokaler und später auf regionaler Eben gegen andere von der HJ geförderte Mannschaften an. Bernis Mannschaft vertrat sowohl Bremen als auch Niederschlesien. Für Berni ging es einzig und allein um den Sport und es war die schönste Zeit seines bisherigen Lebens. Sie fuhren mit dem Bus umher und schauten über die Grenzbefestigungen hinüber zu den Ländern, die, wie sie in den Vorträgen gelernt hatten, schon bald Teile des Großdeutschen Reichs sein würden.
Und sie mussten nicht lange warten. Am 13. März 1938 sollten die Österreicher darüber abstimmen, ob ihr Land unabhängig bleiben oder sich Deutschland anschließen würde. Hitler hatte indes nicht vor, die Entscheidung abzuwarten, denn er befürchtete, dass die Mehrheit für die Unabhängigkeit votieren könnte. In der Nacht auf den 12. März wurden deutsche Truppen an der Grenze zusammengezogen und marschierten am Morgen im Triumphzug und unter dem Jubel großer Teile der Bevölkerung in Österreich ein. Goebbels hatte den „Anschluss“, wie die Nazis die Besetzung nannten, gewohnt clever inszeniert. „Ich glaube, dass es auch Gottes Wille war, von hier einen Knaben in das Reich zu schicken, ihn groß werden zu lassen, ihn zum Führer der Nation zu erheben, um es ihm zu ermöglichen, seine Heimat ins Reich zu überführen“, verkündete der gebürtige Österreicher Adolf Hitler in einer Radioansprache an das jetzt Großdeutsche Reich, die in jeder Schule, jedem Büro, jeder Fabrik, jedem HJ-Zeltlager und in jeder anderen öffentlichen Institution gehört wurde. Und nicht zum ersten Mal behauptete Hitler, er sei nichts weiter als ein „Werkzeug der Vorsehung“, ganz so, als habe er, ein einfacher Sterblicher, mit alledem nichts zu tun.
Am nächsten Tag wurden jüdische Bürger gezwungen, unter dem Gejohle und Gelächter tausender Schaulustiger und von den Wochenschauen genüsslich im ganzen Reich verbreitet, Plakate von den Wänden zu schrubben. Es waren Aufrufe, bei der Volksabstimmung, die die Nazis verhindert hatten, für die Unabhängigkeit zu stimmen. Andere Juden wurden genötigt, öffentliche Toiletten zu putzen, unter anderem diejenige des neuen SS-Hauptquartiers – eine weitere symbolische Geste, die deutlich machen sollte, wer nun das Sagen hatte. In den folgenden Wochen und Monaten wurden tausende Kommunisten, Sozialisten und Juden festgenommen und in Konzentrationslager deportiert; ihr Vermögen wurde vom neuen Staat konfisziert.
Das alte Radio im Schloss knisterte stark, so dass es nicht ganz einfach war, den Nachrichten und Ansprachen zu folgen. Auf jeden Fall aber ließen der Jubel der österreichischen Bevölkerung, die Klänge der mitreißenden Marschmusik und Goebbels flammende antisemitische Reden die dicken Mauern von Schloss Schweibersdorf erzittern. Gemäß den Weisungen der Partei hatten die HJ-Führer alle Jungen antreten lassen, um der Radiosendung zu lauschen und zu feiern.
Für Berni war das längst nicht so interessant wie die Übertragung, der sie drei Monate später zuhörten, im Juni 1938. Da nämlich fand der Rückkampf zwischen Max Schmeling und Joe Louis statt, der über den unumstrittenen Weltmeister im Schwergewicht entscheiden sollte. Schmeling war einer der Helden von Nazi-Deutschland. Seit seinem zwei Jahre zuvor im Yankee Stadium von New York errungenen K.o.- Sieg gegen den Schwarzamerikaner Louis wurde Schmelings Boxkunst als eines der besten Beispiele für die „Überlegenheit der arischen Rasse“ gefeiert. Dass Louis trotz dieser Niederlage den amtierenden Weltmeister Jim Braddock herausfordern durfte und gegen ihn den WM-Titel holte, hatte zu hitzigen Diskussionen geführt. Nach Ansicht der Deutschen war es eine abgekartete Sache gewesen.
Nun bekam Schmeling die Chance, die Frage ein für alle Mal zu klären. Mehrere Wochen lang bereiteten sich die beiden Kontrahenten intensiv auf den Kampf vor, Schmeling in Deutschland, Louis in seinem Trainingslager nördlich von New York. Über 70.000 Zuschauer waren am 22. Juni erneut im Yankee Stadium dabei, und der Kampf wurde in englischer, deutscher und spanischer Sprache übertragen. Das Radio im Schloss Schweibersdorf knackte und pfiff wie üblich, die Klangwellen kamen mehr schlecht als recht aus dem fernen Amerika herüber. Berni hämmerte an die Wand: „Seid still’“, rief er den anderen zu. Der Kampf dauerte nur zwei Minuten und 40 Sekunden. Louis bearbeitete Schmeling mit einer Serie fürchterlicher Schläge und schickte ihn frühzeitig in die Seile. Nach dem dritten Niederschlag warf Schmelings Trainer das Handtuch, und im Yankee Stadium brandete grenzenloser Jubel auf. Auf Schloss Schweibersdorf hingegen ließen Berni und seine Kameraden ungläubig und enttäuscht die Köpfe hängen. Das konnte unmöglich wahr sein, sicher war Schmeling erneut betrogen worden. Das Reich behauptete später, Louis hätte unfair gekämpft und mit einem Schlag in die Nieren gegen die Regeln verstoßen. Schmeling wusste, dass es nicht stimmte, sagte aber nichts, denn das hätte üble Konsequenzen für ihn gehabt. Nur die wenigsten Leute wussten, dass Schmeling nie Parteimitglied war. Jahre später, nach dem Krieg, wurden er und Louis sogar Freunde.
Berni