Die schlimmsten Kundgebungen fanden in Berlin statt, aber es gab sie in allen größeren Städten und Gemeinden, selbst in Bremen mit seinem gemäßigten Senat. Die Polizei war gehalten, Unruhestifter auf beiden Seiten festzunehmen, doch es waren vor allem linke Demonstranten, denen es besonders schlimm erging. Die SA („Sturmabteilung“), also die Schlägertrupps der Nazis, konnte oft ungehindert wüten.
Der achtjährige Berni war ein hübscher Junge mit blondem Haar, blauen Augen und aufgeweckten Gesichtszügen. Er konnte schnell laufen, hoch springen, Bälle aller Art fangen und weit werfen. Äußerlich ähnelte er seinem Vater, einem gutaussehenden, stattlichen Mann, der im Hafen arbeitete, zunächst als Elektriker und später als Belader für Kali-Chemie. Charakterlich aber glich Berni eher seiner Mutter, die intelligenter und gebildeter war. Sie hatte das Gymnasium besucht, während ihr Ehemann, nur mit dem Nötigsten an Bildung ausgestattet, mit 14 Jahren die Volksschule verließ und eine Lehre zum Elektriker begann. Frieda Trautmann, so hieß es, habe unter ihrem Stand geheiratet. Mit der Zeit führten die Unterschiede zwischen den beiden zu einigen Spannungen, und Berni ärgerte sich oft darüber, dass sein Vater seine Mutter gängelte, obwohl sie klüger und freundlicher war als er. Vor allem ärgerte er sich, dass seine Mutter alles klaglos ertrug. Es war kein Geheimnis, dass Berni der Liebling seiner Mutter war, ihre Freude und ihre Hoffnung.
An einer Kreuzung hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Es schienen sich mehr Demonstranten als sonst eingefunden zu haben, und die Schlägereien waren bereits im Gange. Berni, der eine bessere Sicht haben wollte, versuchte durch die Beine der Schaulustigen nach vorne zu krabbeln, doch sein Vater packte ihn am Kragen und hielt ihn zurück. Stattdessen kletterte der Junge einen eisernen Laternenpfahl hinauf. Seine Mutter ermahnte ihn herunterzukommen und schimpfte ihn aus, weil er seinen Sonntagsanzug schmutzig machte, aber sein Vater ließ ihn gewähren, also blieb er dort und beobachtete das Geschehen von oben.
So etwas hatte er noch nie gesehen. Dutzende Männer in mehr oder weniger zerfetzter Kleidung fluchten, beschimpften und prügelten sich, was das Zeug hielt. Einige von ihnen hatten Waffen, andere benutzten ihre Banner – der Gewerkschaften, der KPD oder NSDAP –, um auf den Gegner einzuschlagen, ein Mann verwendete gar ein Nudelholz; manche lagen bewusstlos am Boden, und überall war Blut. Endlich sauste mit heulender Sirene ein offener Polizeiwagen um die Kurve, auf den hölzernen Bänken der Ladefläche zwei Reihen helm- und knüppelbewehrter Polizisten. Weil er zu schnell um die Kurve bog, stürzte der Wagen um, und die Polizisten wurden kreuz und quer auf die Straße geschleudert. Ein kurioser Anblick, an dem die Leute ihre helle Freude hatten. Sie bogen sich vor Lachen, klatschten und johlten, aber wenig später war der Spaß vorbei. Einige Polizisten hatten sich verletzt, doch diejenigen, die unbeschadet davongekommen waren, sprangen auf und begannen, auf die Umstehenden einzuknüppeln. Wenig später erschien berittene Polizei und stürmte auf ihren Pferden mitten in die Menge hinein. Gleichzeitig trafen in weiteren Lastwagen SA-Leute ein und warfen sich mit Gewehren und Stöcken bewaffnet ins Getümmel. Die gelöste Stimmung der Schaulustigen wich nackter Angst, und die Leute rannten in alle Richtungen davon. Carl Trautmann packte Berni am Fuß und zog ihn von der Laterne herunter. „Lauf, Frieda!“, rief er seiner Frau zu, die mit Karl Heinz im Arm panisch die Flucht ergriff.
Sie liefen über die Heerstraße und die Wischhusenstraße hinab, Berni vorneweg, und schöpften erst wieder Atem, als sie fast zu Hause waren. In der Ferne hörte man noch die Schreie, aber hier zwitscherten die Vögel, man konnte den Flieder und den Liguster riechen, und nichts deutete darauf hin, dass es nicht ein Sonntag wie jeder andere war. Trotzdem schaute der Vater immer wieder zurück, um sicherzugehen, dass niemand ihnen folgte. Andere Familien verhielten sich ähnlich. Niemand sprach. Jedermann verschwand rasch in seine Wohnung und verschloss die Türen. Später hörten sie, dass drei Menschen getötet und mehr als hundert schwer verletzt worden waren. Einer der Verwundeten war Carl Trautmanns Schwager, der Komponist Kurt Bencken, ein störrischer Mann, der alle Warnungen in den Wind schlug und hartnäckig an seinen sozialistischen Idealen festhielt.
Als sie in die Wohnung kamen, gab Frau Trautmann ihrem Berni einen ordentlichen Klaps. „Sieh dir deine Klamotten an!“, rief sie bekümmert. Sie standen in der holzvertäfelten Diele, in der es schmiedeeiserne Haken für Mäntel und in der Ecke einen Schirmständer gab. Berni saß auf der Holzbank und zog seine Schuhe aus; die Hausschuhe standen in einer ordentlichen Reihe unter der Bank. „Sieh dich an!“, rief die Mutter und schlug ihn erneut. Karl Heinz fing an zu weinen.
Bernis Vater nahm von alldem keine Notiz. Er zog sich die Schlappen an, ging in die Küche und setzte sich mit der Zeitung an den Tisch. In Familienangelegenheiten mischte er sich grundsätzlich nicht ein, das war Sache seiner Frau; seine Aufgabe war es, das Geld zu verdienen. Ursprünglich hatte die Familie in Walle gewohnt, einem etwas besseren Arbeiterviertel, aber durch Inflation und schließlich Hyperinflation nach dem Krieg hatte sich sein Verdienst faktisch mehr als halbiert, und sie konnten es sich nicht mehr leisten. In Bernis Geburtsjahr 1923 war die deutsche Mark das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt war: Im Juni kamen 1.800 Mark auf einen US-Dollar, im Juli 160.000, im August gar eine Million. Die Preise für Grundnahrungsmittel konnten sich von einem Tag auf den nächsten vervielfachen. Ausländische Investoren zogen ihr Geld über Nacht aus Deutschland ab, so dass die Wirtschaft immer mehr ins Chaos stürzte. Familie Trautmann musste ins weiter westlich gelegene Bremen-Oslebshausen umziehen, in die Sozialsiedlungen, wo sie auch jetzt noch lebten. Von hier aus fuhr Carl Trautmann, der froh war, überhaupt Arbeit zu haben, jeden Tag mit dem Fahrrad zum Hafen. 1931 gab es fast fünf Millionen Erwerbslose in Deutschland, und auf seinem Weg kam Trautmann an alten Kollegen vorbei, die keine Arbeit und kein Obdach hatten und an den Suppenküchen anstanden, die an fast jeder großen Kreuzung aufgebaut waren. Carl Trautmann selbst war nie arbeitslos, musste aber Doppelschichten fahren, um über die Runden zu kommen.
In den Anfangstagen der Weimarer Republik hatte es in Bremen viele Versuche gegeben, Arbeiterräte einzusetzen, vor allem im Hafen, wo die Gewerkschaften aktiv waren, höhere Löhne forderten und zu Streiks aufriefen, aber jede Initiative scheiterte. Es war jedes Mal das Gleiche: Gute Absichten gingen bald in politischen Grabenkämpfen unter, in denen die einzelnen Fraktionen die gemeinsamen Ziele aus den Augen verloren. Carl Trautmann war eigentlich Sozialdemokrat, hatte die anfangs regierende SPD mit ihren Köpfen Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann unterstützt, aber inzwischen hatte er seinen Glauben an die Politik mehr oder weniger verloren. Wie die meisten seiner Zeitgenossen gab er den erdrückenden Bedingungen des Versailler Vertrages die Schuld an Deutschlands Misere. Dieser Vertrag verpflichteten das Deutsche Reich, an die gegnerischen Staaten des Ersten Weltkriegs Schadensersatz zu leisten. Wie sollte das Land, das sich ohnehin schon in prekärer Lage befand, über einen Zeitraum von 42 Jahren 269 Milliarden Goldmark an Kriegsreparationen zahlen? Die Summe wurde später auf 132 Milliarden reduziert, der Rest sollte in Naturalien bezahlt werden: Kohle, Eisen, Stahl usw. Aber es schien dennoch unmöglich.
Die einzigen Menschen, die von der Lage profitierten, da war Trautmann sich mit seinen Kumpeln am Stammtisch einig, waren die Juden, denen die großen Kaufhäuser und Banken gehörten und die von den armen Teufeln, die sich verschuldet hatten, exorbitante Zinsen fordern würden. So legten sie es sich zurecht, wenn sie sich beim Bier aufregten. Trautmann war ein freundlicher Mensch, der es mochte, gemocht zu werden. Er war beliebt unter seinen Bekannten, die sich jeden Sonntag in der Kneipe ihres Viertels trafen. Bernis Vater war kein Schwächling, aber er versuchte, Ärger aus dem Weg zu gehen. Er hielt sich lieber heraus, erzählte stattdessen einen Witz und bestellte noch eine Runde Bier.
Am Tag nach der Kundgebung war wieder Normalität eingekehrt. Carl Trautmann verließ die Wohnung morgens um halb sechs Uhr und radelte zum Schichtbeginn Richtung Hafen. Die Mutter war um fünf aufgestanden und hatte das Frühstück gemacht: Brot, Marmelade und Kaffee, dazu heiße Milch für