Bert stimmte zu. „In gewisser Weise hat mich meine Kindheit zu dem gemacht, was ich bin“, sagte er. „Und der Krieg. Das sportliche Talent ist mir in die Wiege gelegt worden, aber der Krieg hat mich zäher und härter gemacht. Nachdem ich gegen die Partisanen gekämpft hatte, konnte mich nichts mehr erschüttern. Nicht einmal ein gebrochenes Genick. Du kannst ein guter Torwart sein, aber um ein herausragender zu werden, brauchst du ein großes Herz. Das zeichnet alle herausragenden Torhüter aus: Mut und ein großes Herz.“
Nach dem Essen holte Bert ein großformatiges Schwarz-Weiß-Foto hervor. Es war am 15. April 1964, nach seinem Abschiedsspiel an der Maine Road, aufgenommen worden, als er im Alter von 41 Jahren zurücktrat. Das Bild zeigt, wie er vor einem dieser altmodisch anmutenden Mikrofone interviewt wird. Pressefotografen und Fans scharen sich in Regenmänteln, Filzhüten, Mützen und Kassengestellen um Bert, der ganz wie der Star aussieht, der er ja auch war. Er wirkt ein wenig gefasster als noch kurz zuvor, als er das Feld verließ. „Da habe ich wirklich geweint“, sagte er. „Die Tränen rollten mir die Wangen herunter. Es hatte den ganzen Tag geregnet, und ich hatte nicht damit gerechnet, dass überhaupt jemand kommt. Keine Zuschauer, kein Geld. Ich habe damals nicht mehr als 35 Pfund die Woche verdient und konnte das Geld gut gebrauchen. Ich hatte eine Frau und zwei Jungs, dazu ein Haus, das es instandzuhalten galt. Aber die Leute kamen, von überall – aus Bolton, Liverpool, Preston, London und natürlich Manchester – insgesamt 47.000. Großartig, oder?“
Anstoß war damals um 19.30 Uhr. Es hatte aufgehört zu regnen, und als Bert beide Mannschaften aus dem Spielertunnel aufs Feld führte, war der Lärm auf den Tribünen ohrenbetäubend. „Wie viele besondere Momente hat man in seinem Leben? Aber die besten sind die zutiefst menschlichen, und dieser gehörte dazu. Ich war den Menschen in England, insbesondere hier in Lancashire, und meinen Kollegen immer dankbar dafür, dass sie mich nach dem Krieg als Deutschen akzeptiert und zu dem gemacht haben, der ich heute bin.“ Selbst heute, 45 Jahre später, hat er Tränen in den Augen, wenn er davon erzählt. „Das Spiel wurde nie richtig beendet. Die Leute rannten einfach aufs Feld, und es musste eine Gasse gebildet werden, damit wir in die Kabine konnten. Das war der Moment, in dem die Gefühle mich überwältigt haben. Ich habe geweint. Natürlich habe ich geweint. Ich schäme mich dessen nicht.“
Im „Daily Express“ war am nächsten Tag zu lesen:
BERT VON 47.000 FANS VERABSCHIEDET
Insgesamt £ 90.00 kamen beim gestrigen Abschiedsspiel für Carl Bernhard Trautmann, Englands beliebtesten Deutschen, zusammen. 5.000 Fans sorgten bereits drei Minuten vor dem Abpfiff für das vorzeitige Ende des Spiels, weil sie es nicht erwarten konnten, diesem herausragenden Botschafter des Fußballs die Ehre zu erweisen. Die Spieler mussten sich den Weg vom Feld freikämpfen, und es dauerte mehrere Minuten, bis Trautmann, bleich und emotional sichtlich mitgenommen, mithilfe der Polizei die Spielerkabine erreichte. Das Spielniveau im Match zwischen einer Auswahl von Manchester City und United sowie einer internationalen Elf war dem Anlass angemessen. Unter anderem gab sich der 49 Jahre alte Stanley Matthews die Ehre und lief zugunsten seines jungen Kollegen, dem 41 Jahre alten Trautmann, noch einmal zur Hochform auf.
Bert und ich verbrachten nach diesem Essen viele Tage miteinander. Ich stellte Fragen, während er, über das Aufnahmegerät gebeugt, in seinen Erinnerungen kramte. Dabei stellte sich sein Gedächtnis als bemerkenswert gut heraus, als das eines jungen Mannes, und kein noch so geringes Detail entging seiner Aufmerksamkeit. Naturgemäß erwiesen sich seine Jugend im Nazi-Deutschland der 1930er Jahre sowie der Krieg als prägende Zeiten, und oft war Bert tief bewegt, wenn Erinnerungen hochkamen, die viele Jahre verborgen geblieben waren. Es folgten die Jahre des Ruhms, aber auch der hat seine Höhen und Tiefen, und Bert hatte mit beidem reichlich Erfahrungen gemacht. Ich erklärte ihm, dass ich sein Leben wie eine Geschichte erzählen wollte, eine Geschichte unserer Epoche. Und wie die meisten guten Geschichten begann auch diese vor langer, langer Zeit.
KAPITEL 1
Kindheit in Bremen
Als er noch ein Kind war, in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren in Bremen, wurde Bernhard Trautmann stets Berni gerufen. „Berni, hol die Kartoffeln aus dem Keller“, hieß es, oder: „Berni, geh zu Schmidts und besorg einen Laib Sauerbrot“, oder auch: „Berni, bleib nicht so lange weg!“ Diese Ermahnung rief seine Mutter oft aus dem Küchenfenster hinter ihm her, wenn er schon die Straße hinunterlief. Später, von seinen Kameraden in Russland, wurde er Bernd genannt. Und noch später, in England nach dem Krieg, hieß er Bert. Aber einstweilen war er eben Berni.
Berni war acht Jahre alt, als er seine erste politische Kundgebung erlebte. Es war ein Sonntag im Mai 1931, und er war mit seinem Vater und seiner Mutter und seinem fünfjährigen Bruder Karl Heinz unterwegs. Es war ein heißer Tag, in den Vorgärten der Häuserblocks, in denen sie wohnten, blühte bereits der Flieder. Die Wohnhäuser waren Sozialbauten in eintönigem Grau, solide und zweckmäßig errichtet, für jeweils vier Familien. Zu jedem Haus gehörten ein Keller und ein großer Dachboden. Einmal in der Woche machte Bernis Mutter die Wäsche und hängte sie im Winter an langen Leinen auf, die den gesamten Dachboden durchzogen, oder im Sommer draußen im Garten hinterm Haus, wo die weißen Laken neben Vater Trautmanns Arbeitskluft und Bernis Schulkleidung in der Sonne flatterten. Über eine Steintreppe gelangte man in den Keller, auf den Dachboden aber führten hölzerne Stufen, die immer nach Bienenwachs rochen, weil sie von den Hausfrauen regelmäßig geschrubbt und gebohnert wurden. Die Häuserblocks zogen sich die gesamte Wischhusenstraße entlang und wurden erst zur Gröpelinger Heerstraße hin, der Hauptverkehrsstraße, von großen Privathäusern mit Giebeln und Erkern abgelöst. Die Straße war von Linden gesäumt sowie einer großen alten Eiche. Obwohl es also Sozialwohnungen für die Bremer Hafenarbeiter waren, ließ es sich dort gut leben und aufwachsen. Die Trautmanns wohnten in der Nummer 32.
In der Weimarer Republik, die im November 1918 ausgerufen wurde und nach der katastrophalen Kriegsniederlage Deutschlands die autokratische Monarchie Kaiser Wilhelms II. ablöste, waren politische Kundgebungen an der Tagesordnung. Mehr als zwei Millionen deutsche Soldaten waren im Krieg gefallen, und noch einmal doppelt so viele kehrten so versehrt oder verstümmelt heim, dass sie nicht mehr in der Lage waren, ein normales Leben zu führen. Die neue liberaldemokratische Regierung versprach, den reaktionären Staatsapparat zu reformieren und das Los der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern, die zu einem großen Teil eben erst von der Front zurückgekehrt war. Auch Bernis Vater Carl war einer von ihnen. Zwar gehörte er zu den Glücklichen, die nur geringfügige Verwundungen davongetragen hatten, doch der Himmel weiß, welchen seelischen Schaden ein junger Mann nimmt, der fast zwei Jahre in Schützengräben verbringen muss. Carl Trautmann sprach nie über diese Zeit. Er war gerade 20 Jahre alt, als er heimkehrte, und nur wenig später heiratete er Frieda Elster. Das war nun elf Jahre her, und inzwischen hatten sie zwei Söhne.
An jenem Sonntag im Mai 1931 gingen Berni und sein Vater voraus. Sie unterhielten sich nicht, grüßten aber Nachbarn, die von der Kundgebung oder einem Nachmittagsspaziergang im Bürgerpark zurückkehrten. Jedermann trug seinen Sonntagsstaat, die Männer Anzüge, frisch gereinigte Hemden und polierte Schuhe mit Gamaschen, die Frauen selbstgenähte Sommerkleider und leichte Jacken, dazu Hüte und Handschuhe. Die Zeiten waren hart und viele der Männer arbeitslos, aber sonntags war davon nichts zu erahnen.
„Moin, moin. Wie war’t?“, fragte Carl Trautmann seinen Nachbarn Wittenburg im gängigen Plattdeutsch.
„Nadscha, gut so weit“, entgegnete Herr Wittenburg und ging seines Weges. Im vergleichsweise beschaulichen Bremen war es zu einer Art Sonntagsvergnügen geworden, politischen Kundgebungen zuzusehen, solange man nur genug Abstand hielt.
Andernorts waren die Kundgebungen keineswegs so friedlich. Regelmäßig lieferten sich die Sturmtruppen der NSDAP, der aufstrebenden Nazi-Partei, heftige Straßenkämpfe mit der kommunistischen KPD und militanten Sozialisten. Deutschland war die Demokratie noch nicht gewohnt. Es gab zu viele politische Parteien in der Weimarer Republik, und kaum hatte sich eine gegründet, spaltete sich schon bald eine Splitter-gruppe ab und nahm einen