Trautmanns Weg. Catrine Clay. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Catrine Clay
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783730700693
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genannt, in der im ganzen Reich Synagogen zerstört und Juden ermordet wurden. Die Pogrome waren keineswegs spontane Aktionen, wie von den Nazis behauptet. Die Vorbereitungen waren lange im Voraus getroffen worden, und man wartete nur noch auf die passende Gelegenheit. Diese ergab sich am 7. November, als Ernst von Rath, ein Angestellter der deutschen Botschaft in Paris, erschossen wurde, und zwar von Herschel Grynszpan, wie die Nazis behaupteten. Wer weiß, wer wirklich hinter dem Attentat steckte. Grynszpan war ein 17-jähriger Jude, dessen Eltern kurz zuvor aus Deutschland vertrieben worden waren. Der Leiter des Reichssicherheitshauptamts Reinhard Heydrich sandte umgehend ein Fernschreiben an alle Hauptquartiere der Gestapo im ganzen Reich mit umfangreichen Anweisungen. „Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z. B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist). Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden“, lauteten einige der Anordnungen. Weiterhin seien „so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Es sind zunächst nur gesunde, männliche Juden nicht zu hohen Alters festzunehmen. Nach Durchführung der Festnahme ist unverzüglich mit den zuständigen Konzentrationslagern wegen schnellster Unterbringung der Juden in den Lagern Verbindung aufzunehmen.“ Die Spezialeinheiten, die auf ihre Anweisungen gewartet hatten, bestanden aus Männern der SA und der SS, außerdem Mitgliedern der HJ. Über eintausend Synagogen wurden zerstört.

      Wieder waren in Schweibersdorf alle um das Radio versammelt und lauschten gebannt. Bauer Henning nickte anerkennend, manche der Jungen jubelten. „Richtig! Gut! Geschieht ihnen recht!“ Berni fragte sich, was in Bremen geschehen war. Die Synagoge befand sich in der Gartenstraße. Sie war nicht besonders groß, und er erinnerte sich nicht, viele Juden gesehen zu haben, zumindest nicht solche mit Kappen und dergleichen, aber er erinnerte sich an einen Jungen namens Goldstein, der in die Klasse über ihm gegangen und mit seiner Familie nach Amerika ausgewandert war. Und warum auch nicht? Amerika war bestimmt kein schlechter Ort zum Leben.

      Im Sommer, nach zahlreichen Wettbewerben auf lokaler und regionaler Ebene, schaffte es Bernis Mannschaft zu den nationalen Meisterschaften bei der Jugendolympiade in Berlin, die im Olympiastadion ausgetragen wurde. Als sie ins Stadion einmarschierten, schaute Berni sich fasziniert im weiten Rund um: Er, Berni Trautmann, stand dort, wo Jesse Owens gestanden hatte, und er schlief in den Räumen, in denen Schwartzmann und Konrad Frey geschlafen hatten. In drei Einzeldisziplinen belegte Berni den zweiten Platz: im Weitsprung, beim 60-Meter-Lauf und im Granatenwerfen. Auch seine Mannschaft wurde insgesamt Zweiter, was eine großartige Leistung war. Reichssportminister von Tschammer und Osten überreichte die Medaillen. Für Berni war es der schönste Moment im schönsten Jahr seines Lebens. Als er nach Hause kam, war er ein paar Zentimeter gewachsen, gebräunt, gesund und arrogant. Von nun an wollte er Bernhard genannt werden.

      KAPITEL 4

      Der Lehrling

      Eine totalitäre Diktatur bedeutet: Jeder Aspekt des täglichen Lebens, und sei er noch so geringfügig, wird von der Obrigkeit kontrolliert und überwacht; wer sich widersetzt, wird auf die eine oder andere Weise drangsaliert oder aus dem Verkehr gezogen. In Nazi-Deutschland geschah das ziemlich schnell, meistens über Nacht.

      Als Berni, der nun Bernhard genannt wurde, im Dezember 1938 vom Landjahr zurückkehrte, musste er sich Arbeit suchen. Wie alles andere auch, wurden sämtliche Ausbildungsmaßnahmen von den Nazis gesteuert, in diesem Fall durch das Reichsarbeitsamt. Wer nicht Mitglied der HJ war, brauchte sich gar nicht erst zu bewerben. Über sieben Millionen Mitglieder, die entweder freiwillig oder wegen des gewaltigen politischen Drucks beigetreten waren, zählte die HJ inzwischen. Dass es immer noch 600.000 Jugendliche gab, die sich widersetzten, spricht für den Mut der Familien, die an ihren politischen Überzeugungen festhielten und bereit waren, die unvermeidlichen Repressalien in Kauf zu nehmen. Ab 1939 konnte die Mitgliedschaft in der HJ aber auch gegen den Willen der Jugendlichen und ihrer Eltern durch die Polizei erzwungen werden.

      Bernhard und sein Vater fuhren mit der Straßenbahn zum Wilhelm-Decker-Haus in der Nordstraße, dem ehemaligen „Volkshaus“ der Gewerkschaften. Dort befand sich jetzt das Arbeitsamt. Vater Trautmann trug seinen Sonntagsanzug mit Hut, Bernhard seine HJ-Uniform. Er war erst seit drei Tagen wieder daheim. Sie kamen in ein großes Büro; an der Wand hinter dem Schreibtisch war eine Hakenkreuzfahne angebracht, links an der Wand hing das gerahmte Porträt von Adolf Hitler, rechts eine Landkarte des Großdeutschen Reichs. Beim Eintreten riefen Vater und Sohn „Heil Hitler!“. Einmal, bei einer Kundgebung in Bremen, hatte Carl Trautmann auf eine Art gegrüßt, die einem Mitglied der SS nicht gefallen hatte, und war prompt mit der Faust ins Gesicht geschlagen worden. Er hatte seine Lektion gelernt.

      Ohne von seinem Schreibtisch aufzuschauen, bedeutete ihnen der Beamte, sich hinzusetzen und zu warten. Er war in Parteiuniform gekleidet und studierte eine Gestapo-Aktie über die Familie Trautmann, die alle wichtigen Informationen enthielt: Carl Trautmann arbeitete bei Kali-Chemie, das eine goldene Fahne für die vorbildliche Umsetzung der Arbeitsvorschriften sowie für die hohen Produktionsraten bei der Munitionsherstellung erhalten hatte. Herr Trautmann war Mitglied der NSDAP, der Junge schon seit seinem zehnten Lebensjahr bei der HJ. Die Zeugnisse seiner HJ-Führer waren ausgezeichnet und wiesen ihn genau als die Sorte eines Jungen aus, die das Reich im kommenden Krieg brauchen würde. Nun galt es also, ihm eine Lehrstelle zu verschaffen, die seine Begabungen und die Bedürfnisse des Reichs unter einen Hut brachten. Viele Jungen der HJ, vor allem aus dem Führerkorps, dem Streifendienst und dem Landdienst, wurden direkt der SS zugeführt, wenn sie das entsprechende Alter erreicht hatten. Die verdientesten HJ-Führer wurden in die Offiziersriege der SS oder Parteiämter der NSDAP übernommen. Der HJ-Streifendienst hatte für Disziplin innerhalb der HJ zu sorgen und oppositionelle Jugendgruppen aufzuspüren; er wurde zur Nachwuchsorganisation der SS, insbesondere von deren Totenkopfverbänden, die in den Konzentrationslagern Dienst taten. Das einfache Fußvolk der HJ wechselte meist in die SA.

      Sie alle sollten als Soldaten auf den Krieg vorbereitet werden, deshalb gab es innerhalb der Hitlerjugend Sondereinheiten wie Flieger-, Marine-und Motor-HJ, oder auch die Nachrichten-HJ, in der die Jungen an Feldtelefon und Morsegerät ausgebildet wurden. Weil jede Armee schmissige Lieder braucht, um die Moral aufrechtzuerhalten, gab es außerdem die Musiker.

      Bernhard Trautmann hatte lediglich die Volksschule absolviert und mit 14 Jahren die Schule verlassen, er brauchte also etwas Praktisches.

      „Zunächst einmal möchte ich dir für deine herausragenden sportlichen Leistungen bei den Reichsjugendspielen gratulieren“, sagte der Beamte und schaute von der Akte auf.

      Bernhard freute sich, anscheinend hatten sich seine Verdienste bis zur Obrigkeit herumgesprochen. Er war sicher, eine gute Lehrstelle zu bekommen.

      „Wofür interessierst du dich?“

      Bernhard antwortete: Sport, vor allem Leichtathletik. Sein Vater schwieg, den Hut im Schoß.

      „Interessierst du dich für Kraftfahrzeuge und Mechanik?“

      Bernhard bejahte, und Vater und Sohn verließen das Amt mit der Zusicherung, dass sich schon eine passende Lehrstelle finden würde.

      Im September 1938 war das Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien unterzeichnet worden, womit das Sudetenland von der Tschechoslowakei abgetrennt und Deutschland angegliedert wurde; die tschechoslowakische Regierung war an dem Abkommen nicht beteiligt worden. Das Sudetenland war ein Grenzgebiet, in dem eine überwiegend deutschsprachige Mehrheit lebte, wie Bernhard während seiner Reisen im Landjahr gelernt hatte, weshalb die Nazis dieses Gebiet für sich forderten. Der britische Premierminister Neville Chamberlain hatte Hitler mehrere Male besucht, um ihn zu einem Einlenken zu bewegen. Nach dem dritten Treffen kehrte er mit dem unterzeichneten Abkommen und den berühmt gewordenen Worten „Peace for our time“ nach London zurück. Hitler indes trieb seine Pläne weiter voran. Am 1. Oktober 1938 besetzten deutsche Truppen das Sudetenland, sechs Monate später marschierten sie widerstandslos in das restliche Tschechien ein.

      Das war eine Katastrophe für Europa und ebnete den Weg in den Zweiten Weltkrieg. Nun, da Hitler wusste, dass die englische Regierung eine Appeasement-Politik verfolgte,