Als Lohn bekam Bernhard zwei Reichsmark die Woche, plus eine weitere für die Reinigung seiner Overalls. Falls der Meister am Montagmorgen feststellte, dass der Overall nicht in einer Spezialreinigung, sondern daheim gewaschen worden war, wurde die Mark wieder abgezogen. Zum Glück konnte sich Bernhard etwas zu seinem mageren Gehalt dazuverdienen: Es waren ständig und überall Kraftfahrzeuge aller Art zu reparieren und zu warten, viel mehr, als die Werkstatt in einer Woche bewältigen konnte. Bernhards Ausbilder Wegener schob sonntags Überstunden und machte dazu ein paar private Arbeiten. Bernhard half ihm oft dabei, und sie teilten den Verdienst.
In jenen Jahren vor dem Krieg war das Leben noch überschaubarer, unbeschwerter und unschuldiger. Seine Freizeit verbrachte Bernhard mit Sport oder ging, sofern er das Geld übrig hatte, ins Kino. An solchen Abenden wartete seine Mutter darauf, dass er heimkehrte und ihr den ganzen Film von Anfang bis Ende erzählte. Wenn es ein schöner, rührender Film war, schaute sie ihn sich später allein oder mit einer der Tanten an, um tüchtig zu weinen. Mädchen spielten für Bernhard damals keine Rolle; er schien es gar nicht zu bemerken, wenn sie ihn auf der Straße anlächelten. Die einzige Frau in seinem Leben war seine Mutter, und seine einzige Leidenschaft war der Sport.
Nachdem er seine Lehre bei Hanomag angefangen hatte, blieb Bernhard nur noch wenig Zeit für den Sport, also beschränkte er sich weitgehend auf den Fußball, den er sonntagmorgens auf den Plätzen in der Umgebung spielte. Vor den Spielen halfen die Spieler dabei, die Kreidelinien auf dem Platz zu ziehen, dann zogen sie sich ihre Mannschaftstrikots an. Bernhard spielte Mittelstürmer und setzte sich energisch gegen jeden durch, der sich ihm in den Weg stellte – er wusste selber nicht, woher er diesen unbedingten Siegeswillen hatte. Das sportliche Talent hatte er vom Vater geerbt, aber die Angriffslust und das Temperament waren ihm eigen. Bernhard konnte ziemlich unausstehlich werden, wenn einer seiner Kameraden beispielsweise einen schlechten Pass spielte. Zwar lernte er im Laufe der Jahre, mit Anstand zu verlieren, doch war er während des Spiels immer so aufs Gewinnen fixiert, als hinge sein Leben davon ab. Auf jeden Fall war er immer der Star, derjenige, der alle anderen in den Schatten stellte.
Nach dem Spiel ging es unter die Dusche, danach heim zum Mittagessen. Oft wurde Bernhard schon sehnsüchtig von seiner Mutter erwartet, die ihm vom Küchenfenster aus zurief: „Geh und hol Vati aus der Gaststätte.“ Manchmal kam sein Vater so spät heim, dass seine Mutter den Tränen nahe war, und einmal verlor Bernhard die Beherrschung und hob den Arm, um ihn zu schlagen. „Schlage niemals deine Eltern!“, warnte sein Vater, und Bernhard hielt sich zurück. Aber war genau das nicht das Problem? Sein Vater machte, was er wollte, und alle anderen hatten zu spuren.
„Warum hast du Vati geheiratet?“, fragte er seine Mutter eines Abends. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, sie strickte im Licht der Stehlampe, er blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift. In der Nacht hatte es wieder einen Streit zwischen den Eltern gegeben, sein Vater hatte die Mutter angeschrien, während Berni, Karl Heinz und Helga in ihren Betten lagen und so taten, als schliefen sie.
Die Mutter schaute ihren Sohn überrascht, fast geschockt, an. Anscheinend hatte er den Streit mitbekommen, aber sie wusste nicht recht, was sie ihm antworten sollte.
„Du bist zu jung, um das zu verstehen“, wich sie aus.
„Bin ich nicht. Sag mir einfach, warum du dir das antust?“
Sein Vater arbeitete an dem Tag eine Doppelschicht und kam erst um halb neun nach Hause. Im Bremer Hafen wurde nun rund um die Uhr geschuftet, in den Werften entstanden U-Boote für die deutsche Kriegsmarine, dafür wurden Arbeitskräfte gebraucht, die anderswo fehlten. Draußen wurde es bereits dunkel, Helga lag im Bett, Karl Heinz saß am Radio. Seine Mutter sagte etwas von der Zeit, die sein Vater im Weltkrieg in den Schützengräben verbracht hatte, und von den anstrengenden Doppelschichten und der ständigen Sorge, seine Arbeit zu verlieren. Bernhard ließ sich damit nicht abspeisen. Er verachtete seinen Vater dafür, dass er seine Mutter bedauern musste; ständig tat sie ihm leid, aber er konnte nichts daran ändern.
„Weißt du, er sah einmal sehr gut aus “, fügte sie etwas verlegen noch hinzu.
Als der Vater heimkam, sprang seine Mutter auf und stellte das Essen auf den Tisch. Herr Trautmann kaute fast wortlos seine Mahlzeit hinunter. Er habe noch mit den Offizieren von einem der Schiffe den einen oder anderen Whisky getrunken, erzählte er, aber das war ohnehin kaum zu übersehen. Nach dem Essen schlief er auf dem Stuhl neben dem Herd ein, die ungelesenen „Bremer Nachrichten“ auf den Knien.
An diesem Abend fand Bernhard heraus, wie viel sein Vater in der Woche verdiente. Seine Mutter wusste es nicht und hätte auch nicht gefragt, so war es damals. Frauen wie seine Mutter waren Sklaven, dachte Bernhard, nichts als Sklaven. Nun nahm er sie in die Diele mit, wo Herrn Trautmanns Lederwams am Haken hing. Seine Mutter hatte eine Heidenangst, denn sie ahnte, was er im Schilde führte. Der Lohnstreifen befand sich in der Innentasche. Bernhard schielte im fahlen Schein der Deckenlampe auf das Papierstück, dann gab er es an seine Mutter weiter. Sie schaute gar nicht hin, also sagte er es ihr: über 40 Reichsmark die Woche und das, wo der Durchschnitt bei kaum 25 lag.
„Aber doch nur, weil er eine Doppelschicht arbeitet“, flüsterte sie. „Steck es zurück, um Himmels willen.“
Am 1. September 1939 fielen die Deutschen in Polen ein. Der Teil der Bevölkerung, der die Nazis unterstützte, brach in grenzenlosen Jubel aus, und Hitler und Goebbels schwangen im Radio siegestrunkene Reden über neuen Lebensraum und die „Unterwerfung der minderwertigen Völker durch die Herrenrasse“. Auf den Straßen gab es Aufmärsche und Kundgebungen und nächtliche Fackelmärsche, bei denen alle Uniform trugen, Militärkapellen spielten und die hysterischen Massen „Sieg Heil! Sieg Heil!“ riefen. Die andere Hälfte der Bevölkerung verhielt sich still. In Arbeitslagern und Konzentrationslagern im ganzen Reichsgebiet waren zahllose Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Oppositionelle wie Bernhards Onkel Mencken inhaftiert, und wer bei Verstand war, wollte ihnen keinesfalls dorthin folgen. „[Es herrscht eine] schlechte Stimmung in der Bevölkerung“, notierte General Ritter von Leeb, der später als Oberbefehlshaber die Heeresgruppe Nord nach Russland führte, am 3. Oktober 1939 in seinem Tagebuch. „Keinerlei Begeisterung, keine Beflaggung der Häuser, alles erwartet den Frieden. Das Volk fühlt das Unnötige des Krieges.“
Innerhalb der Familie Trautmann war man geteilter Ansicht. Bernhard und Karl Heinz waren begeistert und käuten die halbverdauten Theorien wieder, die ihnen von der Hitlerjugend eingetrichtert worden waren. Frieda Trautmann sagte nicht viel; der Vater meinte, dass ein Krieg mit Großbritannien nun unvermeidlich wäre. „Und auch den werden wir verlieren“, ergänzte er. Für diese Bemerkung hätte ihn Bernhard beinahe geschlagen. Das war genau die Art von defätistischer Haltung, die sie bei der HJ verachteten – schwach und feige, es war die Art von Gesinnung, die einen ins Gefängnis brachte. Die erst neunjährige Helga saß nur da und fragte sich, was die ganze Aufregung zu bedeuten hatte.
Am 3. September erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Für die schweigende deutsche Opposition kam die Kriegserklärung zu spät. Ein Jahr zuvor, als das Reich sich auf den Einmarsch in die Tschechoslowakei vorbereitete, hätte eine Intervention vielleicht etwas bewirken können. Hätten die Alliierten Hitler damals Paroli geboten, wäre er vielleicht noch aufzuhalten gewesen.
Bernhard, den Kopf voller Hirngespinste, verschwendete keinen Gedanken daran, was die Kriegserklärung bedeutete. Für ihn stellte sich ohnehin nur die Frage, wie lange Deutschland brauchen würde, um Frankreich und Großbritannien zu besiegen – vielleicht ein Jahr, vielleicht auch nur ein halbes. Polen war im Nu erobert worden, und das war ja auch kein Wunder: Die Polen verkörperten eine unterlegene Rasse, schmutzig, dumm, unzivilisiert, wie Dr. Goebbels im Film „Feldzug in Polen“ erläutert hatte. Aber was seltsam war: Die Russen waren doch auch Untermenschen, und trotzdem hatte der Führer mit Stalin einen Nichtangriffspakt ausgehandelt, und die beiden Länder hatten Polen unter sich aufgeteilt: Das Deutsche Reich erhielt den Westen und die Sowjetunion den Osten.
„Gehst du für deine Mutti zu Schmidt?“, lauerte Frau Mrozinzsky ihm wieder einmal im Hausflur auf. Sie hatte ein Tuch um den Kopf gebunden und trug wie immer eine große Schürze, die nicht besonders sauber aussah. Sie strahlte, lächelte ihn an und