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Das Vereinshaus lag mitten in der Anlage. Der Hauptweg verbreiterte sich zu einem kleinen Platz, der ringsum von Hecken eingefaßt war. In der Mitte, unter alten Bäumen, waren mehrere Menschen beschäftigt. Auf der einen Seite gab es eine glatte Fläche, die sicherlich zum Tanzen gedient hatte. Der Rest des Schattenrunds war mit Tischen und Stühlen vollgestellt. Eine junge Frau in Jeans und Bikini-Oberteil räumte Gläser und Aschenbecher zusammen, hielt aber inne, als sie Lewohlt bemerkte. Die Tür und alle Fenster des grau verwitterten Holzhauses standen weit offen. Neben der Tür stapelten sich Bier- und Sprudelkästen; im Haus spülte eine Grauhaarige. Zwei Männer packten Plastikteller und -bestecke in blaue Müllsäcke; ein dritter verstaute leere Weinflaschen in bereitstehende Kartons. Einen Moment glaubte Lewohlt, den fettigen Duft von Bratwürstchen zu riechen. Jemand hatte angefangen, den gemauerten Grill rechts neben dem Haus zu reinigen und die Asche zusammenzukratzen. Zwei vom Ruß schwarze Wischtücher trockneten in der Sonne.
Ein breitschultriger Mann trat ihm entgegen, das Gesicht grau vor Müdigkeit.
«Guten Tag», grüßte Lewohlt höflich. «Mein Name ist Lewohlt, Kriminalpolizei. Ich suche Herrn Harald Wolter.»
«Der bin ich», antwortete der Mann bedrückt. «Guten Tag, Herr Kommissar.»
«Sie wissen, weshalb ich komme?»
«Ja, wir haben’s schon gehört. Wegen der Lei... der Toten in Breckers Garten. Schreckliche Geschichte. Wie konnte das nur geschehen?»
«Das versuche ich gerade herauszufinden», gab er freundlich zurück. «Können wir uns einen Moment unterhalten?»
«Natürlich, bitte, nehmen Sie doch Platz. Etwas zu trinken?»
«Einen Sprudel würde ich gerne nehmen.»
«Ja, sicher. Martha!» rief er ins Haus hinein, und die Grauhaarige, die wie alle zugehört hatte, nickte. «Wir bleiben besser draußen, im Haus ist es entsetzlich stickig. Stört es, wenn wir...»
«Nein. » Er schüttelte zwei Ehepaaren die Hände. Ratjens hieß das ältere Paar, Grimm das jüngere; Ratjens führte die Kasse des Vereins, Grimm bezeichnete sich als Schriftführer. Lewohlt notierte sich ihre Namen und Anschriften und registrierte, daß alle unwillkürlich ernster wurden. Seine Sprudelflasche war vor Kälte beschlagen. Die Männer tranken Bier und sahen auch so aus, als hätten sie es nötig. Die beiden Frauen teilten sich eine Flasche Wein, und er beobachtete schmunzelnd, daß die Grauhaarige erst kleine Zettel für die Kasse schrieb, bevor sie Getränke und Gläser holte.
«Wir hatten unser Sommerfest», entschuldigte sich Wolter. «Es ist sehr spät geworden.»
«Und feucht», ergänzte Helga Grimm. Trotz ihrer luftigen Bekleidung glänzten Schweißperlen auf Schultern und Ausschnitt.
«Das hab ich schon gehört», sagte Lewohlt geduldig. «War’s voll?»
«Und wie. Bestimmt 300 Leute.»
«Alles Mitglieder dieses Kleingarten-Vereins?»
«O nein. Jeder durfte Freunde und Bekannte mitbringen. Oder auch -» er grinste breit - «Freundinnen und Bräute.»
«So können Sie mir gar nicht sagen, wer alles gestern hier gefeiert hat?»
«Nein, leider nein. Zumindest nicht auf Anhieb», verbesserte er schnell. «Wir müßten herumfragen, wer wen mitgebracht hat.»
«Hm. Aber es wäre auch möglich, daß später Wildfremde mitgefeiert haben?»
«Sicher, später schon. Gegen Mitternacht, da hätte dazukommen können, wer wollte.»
«Haben Sie denn fremde Gesichter gesehen?» Alle nickten, und Helga Grimm lachte plötzlich auf, wobei sie Lewohlt zuzwinkerte: «Nicht nur gesehen, auch betanzt.»
«Wann ging’s gestern los?»
«Offiziell um 20 Uhr, aber ich würd' denken, der Hauptschwung kam zwischen neun und halb zehn.»
«Und wie lange hat es gedauert?»
« Also, die Musik hat um drei Uhr aufgehört.» Zwei Mitglieder, so erfuhr Lewohlt, hatten ihre Stereo-Anlagen aufgebaut. Nach drei Uhr bauten sie die Geräte wieder ab und packten sie in einen Lieferwagen.
«Konnten Sie die Anlage nicht über Nacht stehen lassen? Oder in das Haus bringen?»
Ohne zu zögern widersprach Wolter: «Ausgeschlossen, Herr Kommissar. Verstehen Sie, wir können das Gelände ja nicht abschließen, wir haben immer wieder Fremde hier, und das Haus ist schon mehrmals aufgebrochen worden. Wir raten allen unseren Mitgliedern, keine Wertsachen in den Lauben zu lassen. Wir haben auch das eingenommene Geld nicht hier gelassen, nichts von Wert.»
«Sie waren also die letzten?»
«Ja, wir fünf.»
«Und wann sind Sie gegangen?»
«Kurz nach vier Uhr, würde ich meinen.»
Die anderen stimmten zu.
«Um Viertel nach vier waren die Gärten also leer?»
«Nein, gar nicht», meinte Wolter überrascht. «Bei diesem schönen Wetter übernachten viele in den Lauben. Hier ist es angenehmer und vor allem kühler als in dem Backofen von Innenstadt.»
«Ich verstehe», murmelte er und trank den Sprudel aus. «Herr Wolter, wie kommt man eigentlich in die Anlage? Wie viele Eingänge hat sie?»
«Es gibt zwei Haupteingänge, im Westen an der Armhäuserstraße und im Osten an der Walddorfallee. An den beiden Eingängen laufen die beiden Hauptwege zusammen - Sie müssen sich die Anlage wie ein langgestrecktes Rechteck vorstellen, die Schmalseiten im Osten und Westen.»
«Wer dort die Eingänge benutzt, wird nicht kontrolliert?»
«Nein, Sie wissen vielleicht, daß wir nach dem Gesetz die Anlagen öffnen mußten.» Einen Moment funkelte er Lewohlt aufgebracht an, als sei der dafür verantwortlich. «Seitdem treiben sich hier - nun ja, nein, es gibt keine Kontrolle.»
«Andere Aus- und Eingänge gibt es also nicht?»
«Doch, doch. Im Norden können Sie einen Gehweg benutzen, der am Rand der Anlage vorbeiführt. Hinter den Gärten der Häuser an der Nockenstraße vorbei. Den kennen aber die wenigsten.»
«Und im Süden?»
«Da gibt’s einen Ausgang direkt in den Rothenbruch.»
«Haben Sie einen Plan der Anlage? Und eine Liste der Mitglieder, aus der hervorgeht, wer welchen Garten gepachtet hat?»
«Schon, aber nicht hier.» Wolter schien ärgerlich. «In dieser Bruchbude kann ich ja nichts aufheben.