«Nein», knurrte er endlich, «nur ein Todesfall gestern. »
«Sehr schön», freute sich der Krimirat. Opfer interessierten ihn nicht, nur der gute Ruf seiner Abteilung, womit in erster Linie sein eigener Ruf gemeint war. In seiner Gegenwart mußte Lewohlt immer die Zähne fest zusammenbeißen.
Wie in neun von zehn Fällen hätte man sich auch diese Konferenz schenken können. Eines der höheren Tiere bedauerte, sie hätten jetzt wohl doch organisierte Schutzgeld-Erpressung im westlichen Teil der Innenstadt. Das hätte Lewohlt ihm schon vor Monaten verraten können, aber auch er huldigte insoweit dem neuen Stil, als er sich nur noch um seine Sachen kümmerte und nichts tat, diese nutzlosen Sitzungen durch Beiträge zu verlängern. Als sich die Runde auflöste, hatte er kein Wort gesprochen.
Fischer hatte eine gute Nachricht fur ihn: «Das Fahrrad ist gefunden worden. Auch über eine Hecke in einen Garten geworfen. Andy und Pedder sind rausgefahren. »
Der Täter besaß anscheinend wenig Phantasie. «Die Handtasche ist noch nicht aufgetaucht?»
«Nein. Andy und Pedder sehen sich noch einmal in den benachbarten Gärten um. »
Karin Rösch las das Protokoll der Vermißtenmeldung, als er zu ihr ins Zimmer polterte. «Interessant, was?» schnappte er in dem mißglückten Versuch, mit ihr einmal freundlich zu reden. Gleichmütig antwortete sie: «Sehr sogar. Die Eltern wissen ungewöhnlich gut Bescheid über den Inhalt der Handtasche. Für eine Siebzehnjährige eigentlich zu gut. »
Das war ihm noch nicht aufgefallen. «Was schließen Sie daraus?»
«Daß sie ihre Tochter scharf kontrolliert haben. Außerdem trauen sie ihr nicht ganz.»
«Wie kommen Sie denn darauf?»
«Sie haben, bevor sie zum Revier 18 fuhren, festgestellt, daß Martina ihren Paß, ihr Postsparbuch und ihre Sparbüchse nicht mitgenommen hatte.»
«Gut», lobte er ehrlich. «Dann mal auf!»
Die Hessenstraße war lang und gesichtslos, weder häßlich noch schön, weder laut noch leise. Die winzigen Bäumchen zwischen den Parkbuchten schienen zu verdursten. Endlose Reihen von vierstöckigen Rotziegel-Häusern erschlugen mit ihrer Monotonie. Die eng beieinander liegenden Haustüren verrieten, daß es sich um winzige Wohnungen handeln mußte.
Herbert Kleinmann öffnete die Tür. Er war ein auffallend großer, hagerer Mann mit einem länglichen Gesicht, in das sich Mutlosigkeit und Verbitterung eingegraben hatten. Seine Mundwinkel hingen nach unten, als habe er das Lachen verlernt. Der überkorrekte dunkle Anzug mit dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte unterstrich seltsamerweise den Eindruck eines unzufriedenen, gescheiterten Mannes.
Lewohlt stellte Karin und sich vor. Sie kondolierten, und Kleinmann schien erleichtert, daß sie gekommen waren. Seine Stimme klang tief und heiser.
Die Wohnung war so klein, wie Lewohlt vermutet hatte, eine winzige Diele, eine noch kleinere Küche, ein Wohnzimmer, in das gerade ein Tisch mit drei Stühlen, eine cordbezogene Couch und ein Sessel paßten. Ein großer, wuchtiger Schrank mit vielen Türen und Glasscheiben nahm die ganze Querwand ein.
Anna Kleinmann hob mühsam den Kopf. Sie hatte das rotbraune Haar und die dunklen Augen ihrer Tochter; unter anderen Umständen wäre sie eine attraktive Frau gewesen, und auch j etzt noch war Lewohlt von ihrer Schönheit angerührt. Sie trug einen dicken, weißen Bademantel und schien zu frieren, obwohl es heiß und stickig war. Ihre Augen blickten durch sie hindurch, und Lewohlt fragte sich einen Moment beunruhigt, ob sie ihren Schock überwunden hatte. «Sollen wir später noch einmal wiederkommen?» erkundigte er sich leise bei Kleinmann.
«Nein, wir sind ... wir können reden.»
Das Zimmer irritierte ihn. Zuerst dachte er, es sei die Enge, aber dann bemerkte er, daß ihn die peinliche Ordnung störte. Es war so aufgeräumt, daß er sich schwer vorstellen konnte, wie Menschen in dieser steifen Nüchternheit lachten. Ärgerlich riß er sich zusammen: «Es tut mir leid, aber wir müssen leider ein paar Fragen stellen.»
Nach einer langen Pause flüsterte sie: «Ja.»
«Erzählen Sie uns bitte, was am Freitag passiert ist.»
Sie sprach wie ein Automat, langsam, jedes Wort wohl verständlich, aber ohne jede Betonung, so, als liefe eine schlechte Bandaufnahme ab. Ihr Blick hatte sich zu Anfang des Gesprächs auf einen Fleck an der Wand gerichtet, an dem sie die ganze Zeit über festhielt, und je länger, desto mehr beschlich ihn der Gedanke, es gebe zwei Anna Kleinmanns - eine, die auf Fragen antworten konnte, und eine andere, die nicht im Zimmer war.
Martina war am Freitag Abend wie immer aus der Firma gekommen. Nein, sie fuhr mit dem Bus, und wenn sie pünktlich aus dem Geschäft kam, erreichte sie den Bus um 18.07 Uhr an der Weigandstraße, der um zwanzig nach sechs hier in der Hessenstraße, vier Häuser weiter, eintraf: Kurz vor halb sieben hatte sie aufgeschlossen, ja, sie besaß eigene Schlüssel. Mit der Mutter unterhielt sie sich nur kurz, das Übliche, ein ganz normaler Tag im Geschäft, nichts Besonderes. Sie ging in ihr Zimmer, dann ins Bad, zog sich um, nein, im Geschäft trug sie selten Hosen, und dann aßen sie gemeinsam zu Abend, bis gegen sieben Uhr.
«Ich war nicht da», sagte Kleinmann dumpf. «Ich habe freitags meinen Kegelabend von der Firma aus, und der dauert immer bis gegen elf Uhr.»
Kurz nach sieben Uhr packte Martina Platten zusammen. Sie wollte ihre Freundin Roswitha besuchen und bei ihr Musik hören. Nein, das war gar nicht ungewöhnlich, sie traf sich oft mit Roswitha, die manchmal auch zu ihnen kam, aber selten. Das Fahrrad, ja. Martina sparte gerne das Fahrgeld für den Bus, außerdem fuhr sie gerne Rad, schon lange, seit ihrem zwölften Lebensjahr. Sie war sehr vorsichtig, noch nie hatte sie einen Unfall gehabt. Wann sie zurückkommen werde, hatten sie nicht besprochen. An Werktagen, das war seit langem ausgemacht, mußte sie um zehn Uhr abends wieder zu Hause sein, und wenn es aus irgendeinem Grunde später werden würde, hatte sie immer angerufen. Elf Uhr war die äußerste Grenze, sie war sehr zuverlässig.
Sie hatte aufgeräumt, abgewaschen, etwas Zeitung gelesen, gestopft, ab und zu auf den laufenden Fernseher geschaut. Herbert Kleinmann kam gegen 23.15 Uhr zurück, da war sie allerdings schon unruhig, ja, und dann ... Sie hatten fast die ganze Nacht aufgesessen.
Kleinmann schüttelte unmerklich den Kopf, und Lewohlt schwieg. Karin Rösch konnte den Blick nicht von Anna Kleinmann wenden.
Ja, gegen 19.10 Uhr hatte sie Martina zum letztenmal gesehen und gesprochen. Ihre Stimme brach nicht, aber sie schien zu ersticken.
Am Samstag morgen hatten sie dann das Revier angerufen. Der Mann hatte versprochen, sich bei den Krankenhäusern umzuhören. Gegen Mittag meldete er sich wieder: Martina sei nirgendwo eingeliefert worden. Lewohlt merkte sich das Wort «einliefern»; der Wachhabende hatte sich also nicht nur auf die Krankenhäuser beschränkt, sondern auch die Wachen und Reviere abgefragt. In der Zwischenzeit hatten die Kleinmanns angefangen, Bekannte und Freunde von Martina anzurufen, bis sie sich am Nachmittag entschlossen, Martina offiziell als vermißt zu melden.
Lewohlt wandte sich Kleinmann zu, der steif neben seiner Frau auf der Couch saß. Er hatte an alles gedacht: Bilder, Fahrradausweis, Inhalt von Martinas Handtasche. Gegen 18 Uhr waren sie in die Wohnung zurückgekommen. Das wußte er alles schon aus dem Protokoll, aber verstörte Zeugen mußte man erst einmal reden lassen.
Martina lernte bei der Firma Eibern & Winkler. Nein, sie war noch nie über Nacht weggeblieben. Nein, sie hatte keinen festen Freund. Nein, sie hatte sich die Woche über normal benommen. Auch am letzten Tag war nichts passiert - jedenfalls hatte sie nichts erwähnt. Wie und warum sie in die Kleingarten-Anlage Rothenbruch gelangt war, konnten sich die Eltern nicht erklären. Sie kannten niemanden, der dort einen Garten besaß.