Ein anderer Bildschirm wurde hell. Mit Elektronik waren sie phantastisch ausgerüstet, konnten Bilder digital abspeichern und jederzeit abrufen, seit einigen Monaten sogar in Farbe, konnten elektronisch Ausschnitte vergrößern und über einen Apparat, dessen Technik Lewohlt nie kapiert hatte, in Sekundenschnelle als fertige Bilder auf den Tisch zaubern. Neugierig schaute er hin. Ja, das war die junge Frau aus der Kleingartenanlage Rothenbruch.
«Brauchen Sie Positive?»
«Nein, danke.»
Das Drucker-Protokoll beschäftigte ihn. Martina Kleinmann, siebzehn Jahre alt - verblüfft rieb er sich über das Kinn -, kaufmännischer Lehrling. Am Samstag, also gestern, von den Eltern Herbert und Anna Kleinmann als vermißt gemeldet, weil sie in der Nacht von Freitag auf Samstag nicht nach Hause gekommen war. Abgezeichnet vom Revier 18, um 17.15 Uhr. Unterwegs mit einem weißen Damenfahrrad, Marke Ferrier, Gestellnummer 16 A 534. Bekleidet mit weinroten Jeans, einer weißen Bluse und hellbeiger Strickjacke. Hellbraune Lederhandtasche mit langem Tragriemen. Zuletzt gesehen am Freitag gegen 19.10 Uhr, als sie die elterliche Wohnung verließ, um zu einer Freundin zu fahren, Roswitha Zoller, Hohe Fuhre 26. Dort laut Aussage der Eltern, die sich erkundigt hatten, gegen 19.35 Uhr eingetroffen und kurz nach 20 Uhr wieder abgefahren. Seitdem vermißt.
Er nahm das Protokoll und ging quer durch das Sekretariatszimmer in Fischers Raum. «Wir haben sie», knurrte er verlegen, und Fischer warf ihm ein schräges Lächeln zu, während er mühsam aufstand. «Danke, Jürgen. »
Das war etwas, was er nie gelernt hatte: Angehörigen eine Todesnachricht zu überbringen. Keiner tat das gern, auch Fischer nicht, aber Fischer wußte aus leidvoller Erfahrung, was Eltern empfanden, und konnte die richtigen Worte finden. Er und Pedder, der über seine seltsame Hellsichtigkeit für die Gedanken und Gefühle anderer Menschen verfügte.
Lustlos bummelte er nach Hause. In seine Zwei-Zimmer-Wohnung zog ihn nichts, aber er hatte auch keine Lust, sich allein in eine Kneipe zu hocken. Vor neun Wochen war er umgezogen, in ein Hochhaus, und die meisten Kisten standen noch immer unausgepackt in der Wohnung. Die Spedition schrie inzwischen Zeter und Mordio und drohte mit Säumnisgebühren. Zwei-, dreimal die Woche nahm er sich vor, endlich seinen Kram auszuräumen, aber jedesmal packte ihn ein lähmender Ekel vor dieser Aufgabe. Dann schob er die Kisten wieder zur Seite, ließ sich in den zart quietschenden Ohrensessel fallen und begann zu lesen. Das Fernsehgerät war immer noch nicht angeschlossen, das zweite Telefon stand auf einem Kistenstapel; das erste war schon am dritten Tag heruntergefallen und zersplittert. Einen Teil der Diele bedeckte ein Haufen schmutziger Wäsche; wenn sich die Tür des Geraderobenschrankes nicht mehr aufziehen ließ, brachte er alles zur Wäscherei. Wer die Wohnung hätte sehen können, würde sofort die Diagnose stellen: Richard Lewohlt, 46 Jahre alt, geschieden, Kriminalhauptkommissar und Leiter des Fachreferats (FR) in, verkam. Aber bis jetzt hatte noch kein Fremder die Wohnung betreten, selbst Andy nicht, der geduldig unten auf der Straße wartete, wenn er seinen Freund und Chef abholte.
Aber «verkommen» war der falsche Ausdruck. Er verkam nicht, obwohl ersieh mit dem Junggesellenleben immer noch schwertat. Er hatte einfach keine Lust mehr, zu nichts, und flüchtete sich in die Welt von Biographien und Romanen. In der Filiale der Stadtbücherei gleich um die Ecke kannte man ihn mittlerweile gut, und die Große .mit den aschblonden Haaren und dem korrekten Mittelscheitel störte sich wenig an seinem mürrischen Ton.
Er schaffte einen ganzen Band der «Memoiren des Herzogs von Saint-Simon» und lebte einige Stunden in der Welt des französischen Hofes. Seit er sich zufällig in einem historischen Roman festgelesen hatte, war er fast süchtig nach dieser Art Lektüre geworden.
Die Woche begann mit einem Treffen aller Referats-Mitarbeiter, offiziell «Konferenz» genannt, in Wahrheit eher ein letzter Versuch, sich bei Kaffee und Klatsch vor der anstehenden Arbeit zu drücken. Die zurückgekehrten Urlauber zeigten demonstrativ ihre Bräune und bewiesen mit Farbfotos, wo sie gewesen waren und was sie gesehen hatten. Es wurde viel herumgealbert und geflaxt, bevor die laufenden Fälle besprochen wurden, Urlaubspläne, Termine für Lehrgänge, Probleme, Schwierigkeiten. Lewohlt schwieg meistens und achtete höchstens darauf, daß auch die Sachbearbeiter zu Wort kamen. In diesen dreißig oder vierzig Minuten durfte und mußte jeder offen reden. Über das, was tagsüber passiert war, verständigten sich die Chefs der Gruppen am späten Nachmittag, kurz vor dem offiziellen Dienstschluß. Aber im FR m gab es keine festen Dienstzeiten, und keiner, der darauf bestanden hätte, wäre länger als einen Monat in diesem Haufen geblieben.
Ruhender Pol dieser Runde war Jürgen Fischer, dem nach einem ungeschriebenen Gesetz Lewohlts Schreibtisch-Sessel zustand. Lewohlt saß auf der Fensterbank und war mehr Zuhörer als Chef. Jeder wußte, daß Fischer - wegen seiner Behinderung fast immer an seinem Schreibtisch zu finden - die wichtigen Entscheidungen traf und daß Lewohlt seinem Stellvertreter unbesehen vertraute, daß Fischer auf der anderen Seite nie etwas tun würde, dem Lewohlt nicht zustimmen konnte. Aber wer Ärger mit Lewohlt hatte, was nicht selten vorkam, weil Lewohlt viel zu mürrisch und ungeduldig war, um immer gerecht zu sein, wandte sich an Fischer. Und Fischer, unbestechlich, geduldig und gerecht, kümmerte sich darum. Seit er Lewohlt dazu gebracht hatte, sich öffentlich in dieser Montagsrunde bei Mitgliedern des FR 111 zu entschuldigen, herrschte Vertrauen. Und seit sich herumgesprochen hatte, daß Lewohlt nach außen diejenigen seiner Leute kompromißlos verteidigte, die er intern gerüffelt hatte, gab es über das gegenseitige Vertrauen hinaus so etwas wie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. «Lewohlts Bande», wie sie im Präsidium durchaus nicht wohlwollend bezeichnet wurde, hielt durch Dick und Dünn zusammen.
Lewohlt gähnte verstohlen und betrachtete Karin Rösch, die wie immer in der entferntesten Ecke saß. «Assistentin zur Anstellung» war ihre Dienstbezeichnung, richtiger wäre gewesen: Lehrling. Persönlich hatte er nichts gegen sie, ihn störte nur, daß seinem Referat eine solche Stelle zudiktiert worden war. Ausgerechnet in der Mordkommission sollte ein Anfänger ausgebildet werden, in einer Kommission, die früher stolz darauf gewesen war, die besten Kriminalisten zu versammeln. Wer dorthin berufen wurde, hatte sich anderswo schon ausgezeichnet und besaß das, was er nun blutigen Anfängern beibringen sollte: Menschenkenntnis, Erfahrung, Zähigkeit, Geduld und die Fähigkeit zu kombinieren. Mit ihr kam er noch halbwegs aus, weil sie ein wenig schüchtern war - oder farblos, wie er oft fand dagegen hatte es mit anderen z. A.’s schon einigen Zirkus gegeben.
In einer melancholischen Stunde hatte er sich gestanden, daß ihn am meisten ärgerte, wie wenig sie aus sich machte, äußerlich und im Umgang mit ihm. Denn sie war weder unansehnlich noch dumm, mit 28 Jahren auch zu alt, ihre Fähigkeiten falsch einzuschätzen.
Über den Fall Kleinmann wurden nicht viele Worte verloren. Alle Fälle begannen schwierig, und die Bande war stolz darauf, daß ihre Aufklärungsquote weit über 90 Prozent lag.
Jeden Montag um neun Uhr versammelten sich die Referatsleiter der Fachdirektion I (Kriminalpolizei), der Direktor und die Abteilungsleiter im Großen Sitzungssaal. Ständige Gäste waren die Vertreter der FD ü (Schutzpolizei) und FD üI (Besondere Kriminalität), der Leiter der Abteilung S0K0 (Sonderkommissionen, von denen es nach Lewohlts Geschmack viel zu viele gab), ein Vertreter des Polizeipräsidenten, des Vizepräsidenten, dem dienstrechtlich die «Kriminaltechnische Untersuchung» und der Fachbereich «Elektronik und Dokumentationen» unterstanden, und ein Mitglied der dem Präsidenten direkt zugeordneten Abteilung «Presse und Information» . Wenn Lewohlt diese Menge sah, erfüllte ihn regelmäßige kalte Wut: Offiziere gab’s weiß Gott genug, und von ihren Gehältern hätten die Truppen bezahlt werden können, die ihnen fehlten.
Unter der doppelflügeligen Tür hielt ihn der Krimirat am Ärmel fest: «Gibt’s was Neues, Herr Lewohlt?»
Lewohlt schluckte seinen Ärger hinunter. Mit Dr. Georg Wesseling, Kriminalrat und Leiter der Abteilung «Gewaltkriminalität», verband ihn eine innige Abneigung. Das hatte etwas mit dem Altersunterschied zu tun; der