Sie hatte sich mit ihrer Freundin Hedda Ardis und mit Edmund Taranee getroffen. Edmund hatte das Treffen angeregt, um ungestört über die jüngsten Entwicklungen in Eldrid zu sprechen. Edmund Taranee. Der Schützling von Zamir. Sie hätte erkennen müssen, was Edmund im Schilde führte, aber sie war zu naiv. Hatte Edmund zu sehr vertraut. Und das, obwohl sie genau wusste, wie nahe sich Zamir und Edmund standen. Zamir, der Schattendieb. Der Wahnsinnige unter den Spiegelwächtern. Nur – das hatten sie alle erst viel zu spät begriffen. Zamir hatte sie alle getäuscht, seine Brüder, die Wesen von Eldrid und die Mitglieder der Spiegelfamilien. Er hatte mit ihnen allen sein böses hinterhältiges Spiel gespielt, und keiner hatte ihn durchschaut. Keiner! Auch Arden nicht. Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, als er Hedda und sie zu dem Treffen in Eldrid überredet hatte. Er stehe unter Zamirs Schutz, hatte er behauptet. Und wenn er diesen Schutz habe, dann sie auch.
»Von wegen«, murmelte Margot vor sich hin. »Was für ein Schutz?«
Zamir hatte ihnen allen dreien die Schatten genommen. Einfach so. Und natürlich hätten sie es besser wissen müssen. Uri hatte sie gewarnt und wollte, dass die Spiegel vorsichtshalber nicht mehr genutzt würden. Jedoch hatte niemand auf ihn gehört. Auch Arden nicht. Der fand diese Bedenken vollkommen überzogen. Er unterschätzte Zamir maßlos.
Ein verbittertes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie hätten alle auf Uri hören sollen. Schon viel früher. Dann wäre das alles vielleicht nicht passiert.
Zwölftes Kapitel
Arden, der Spiegelwächter
Noch während Margot gedankenverloren in dem Zimmer stand, leuchtete der Spiegel erneut auf. Sanft, als begrüßte er einen alten Freund nach langer, langer Zeit. Margot lächelte, als sie es bemerkte. Ja, es könne nicht schaden, einen Blick hineinzuwerfen. Nach all den Jahren vermisste sie ihn immer noch genauso wie am ersten Tag.
Sie fingerte in ihrer Schürzentasche und holte eine Brille mit dickem Gestell hervor. Langsam schob sie sie sich auf die Nase, und da leuchtete der Spiegel stärker auf. Er stand an die leicht vergilbte Wand gelehnt und erhellte den gesamten Raum. Schön war er. Das helle Holz glänzte, als wäre es gerade erst geölt worden. Ein schlichter Rahmen mit Standfüßen und einem hohen Kopfteil. Eine feine kleine Holzleiste schmückte das glatte Holz, ansonsten befanden sich keine Verzierungen auf dem schmalen Rahmen. Das Holz war fast weiß mit einem leichten goldenen Schimmer und wies eine sehr feine Maserung auf. In der Mitte des Kopfteils, auf dem sich ein Bogen absetzte, saß ein Puttenkopf. Ein schmales kleines Gesicht wie das eines kleinen Jungen, mit akkuratem Seitenscheitel, feiner Nase, dünnen Lippen und ausdruckslosen Augen. Auch ohne die opulenten Verzierungen der anderen Spiegel der Scathan- und Taranee-Familie hatte der Dena-Spiegel eine mächtige Aura. Das Spiegelglas war blank und ohne jeden Kratzer oder Rostspuren. Einwandfrei. Aalglatt, ganz wie sein Wächter.
Margot lächelte bei dieser Erinnerung. Wie hatte sie sich so in Arden täuschen können? Und nun? Nun würde sie sich Hilfe suchen müssen und den Spiegel zurücklassen. Sie konnte es nicht riskieren, dass Franz mit einer Entourage von Ärzten und Wissenschaftlern zurückkam. Oder auch nur allein, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht getäuscht hatte. Sie hatte es in seinem Blick gesehen. Ihm war ihr fehlender Schatten aufgefallen.
Seufzend wandte sie sich vom Spiegel ab, schloss bedächtig die Tür und zog an der Klinke, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich zu war. Dann eilte sie, soweit es ihre alten wackligen Beine erlaubten, die Treppe hinab zum Haustelefon. Sie kramte in der Schublade des Tischchens, auf dem sich ein altertümlicher Telefonapparat mit Wählscheibe befand, und zog ein Notizbuch heraus. Wen würde sie anrufen? Wen könnte sie um Hilfe bitten? Es musste ein Mitglied der anderen Spiegelfamilien sein. Scathan, Solas, Ardis und Taranee. Natürlich würde sie sich nicht an Edmund Taranee wenden. Eher würde sie tot umfallen.
Bei dem Gedanken huschte ein Lächeln über ihre feinen runzligen Lippen. Wen dann? Mina Scathan? Oder Arndt Solas? Arndt hatte seinen Schatten nicht verloren. War er überhaupt noch in der Stadt? Vielleicht hütete längst ein anderes Solas-Familienmitglied den Spiegel. Auf einen Versuch ließ sie es ankommen. Mit zittrigen Fingern bediente sie die Wählscheibe, wobei sie das Telefon weit von sich hielt, um die Ziffern besser sehen zu können.
Es klingelte am anderen Ende. Erleichtert atmete sie auf, um sofort wieder die Luft anzuhalten. Was sollte sie sagen? Unschlüssig stierte sie vor sich hin, während es unentwegt läutete. Keiner nahm ab. Entweder war Arndt nicht zu Hause oder er lebte nicht mehr im Solas-Haus. Wieder schlug sie das Notizbuch auf und suchte nach Minas Nummer. Sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, was sie sagen sollte. Es musste schnell gehen.
Dieses Mal dauerte es ein paar Klingelzeichen, dann hob jemand ab. »Ja, hallo, hier bei Scathan«, meldete sich eine raue männliche Stimme.
Margot hielt kurz inne. »Ist Mina da?«
Schweigen am anderen Ende. »Wer will sie sprechen? Wer ist da?«
»Ich möchte sie sprechen.«
»Und wer ist ich?« Die Stimme wurde ungeduldig.
»Das tut hier nichts zur Sache und geht Sie nichts an«, fauchte Margot. »Ist sie da oder nicht? Oder ist sie schon verstorben?«
Wieder Schweigen am anderen Ende. »Nein«, blaffte es. »Natürlich nicht.« Nach einer kurzen Pause: »Ich kann ihr was ausrichten. Dazu benötige ich Ihren werten Namen.«
»Wann kann ich sie denn sprechen, es ist dringend.«
»Hören Sie«, die Stimme wurde jetzt aufgebrachter. »Ich habe für solche Spielchen keine Zeit. Mina wird Sie in der nächsten Zeit nicht anrufen können. Also nennen Sie mir ihren Namen und ihr Anliegen und ich gebe es an sie weiter.«
»Warum denn? Warum kann sie mich nicht sofort zurückrufen?«, Margot war bestürzt und verzweifelt zugleich. »Ich muss sie sprechen. Es geht um Leben und Tod. Oder wissen Sie zufällig, wie ich Arndt Solas erreichen kann?«
Ein tiefes Schnaufen war die Antwort: »Das gibt es doch nicht. Margot? Bist du das? Das kannst nur du sein. So sturköpfig und ungeschickt wie immer.«
Sie japste auf. »Das ist ja wohl eine Unverschämtheit.«
»Ich bin es, Arndt«, unterbrach er sie, bevor sie noch weiterzetern konnte.
»Arndt!« Sie machte eine erleichterte Pause. »Was machst du bei Mina?«
»Ich kümmere mich um ein paar Dinge für sie.«
»Geht es ihr gut?«
»Nein, es geht ihr nicht gut, aber sie wird schon wieder.« Er machte eine Pause. »Wie geht es dir, Margot? Warum rufst du hier an, nach all der Zeit? Was willst du von Mina? Oder von mir?«
Tränen standen ihr in den Augen. »Ich bin aufgeflogen, Arndt. Meine Familie ist fort, und der Spiegel leuchtet. Jemand hat mich gesehen. Ohne Schatten. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Rühre dich nicht vom Fleck, ich hole dich ab.«
Sie lachte bitter. »Wohin sollte