Jeremia als letztes Bild Jesu ist eine Symbolfigur für den leidenden Gerechten. Das ist durchaus passend für Jesus, denn die Passion ist wesentlich für ihn. Doch auch hier gilt: Wenn das Leiden verabsolutiert wird, wird es leicht zum Masochismus. Manche Christen sind direkt verliebt ins Leiden. Jesus hat es nicht gesucht. Es ist ihm widerfahren und er hat es in Hingabe verwandelt. Aber manche Menschen leiden lieber, anstatt aktiv zu werden und die Probleme, unter denen sie leiden, zu lösen. Jesus nimmt das, was sein Leben durchkreuzt, an. Aber er sucht das Kreuz nicht von sich aus.
In all den genannten Identifikationsfiguren ist also immer nur ein Teilaspekt Jesu enthalten. Nun fragt Jesus die Jünger: »Ihr aber, für wen haltet ihr mich?« (Mt 16,15). Und Petrus bekennt stellvertretend für alle Jünger: »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes« (Mt 16,16). Jesus ist der Messias, der uns in die Freiheit führt, der uns befreit von negativen Bindungen. Und er ist der Sohn des lebendigen Gottes, was Matthäus besonders betont. Im Griechischen heißt es hier: Theos zon. Das ist ein Bild für den lebendigen Gott, der in der Geschichte handelt, im Unterschied zu toten Götzen (vgl. Luz 461). Für mich sind das zwei wichtige Kriterien, ob mein Jesusbild stimmig ist oder nicht: wenn ich mich frei fühle und ich lebendig bin, kann ich sicher sein, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich kenne Christen, die vor lauter Gesetzesdenken innerlich unfrei sind. Sie zwängen sich in Normen hinein und meinen, diese seien von Jesus so vorgegeben worden. In Wirklichkeit entstammen sie dem eigenen Über-Ich. Andere sind vor lauter Druck, alle Gebote zu erfüllen, innerlich erstarrt. Von ihnen geht keine Lebendigkeit aus. Nur dort, wo ein Mensch voller Leben ist, wo das Leben in ihm aufblüht, hat er ein angemessenes Bild von Jesus.
Jesus preist nun den Simon Petrus selig: »Selig bist du, Simon Barjona, denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel« (Mt 16,17). So wie Petrus stellvertretend für die Jünger spricht, wird er nun von Jesus stellvertretend für die Jünger seliggepriesen. Das meint: Wenn wir Jesus wirklich verstehen, begreifen, wer er ist, dann ist das letztlich immer ein Geschenk der Gnade Gottes.
Das nächste Wort in der Bibelgeschichte wurde durch die Zeiten und Konfessionen auf ganz unterschiedliche Weise gedeutet: »Ich aber sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen« (Mt 16,18). Heute sind sich die Exegeten einig, dass aus diesen Worten nicht die Einsetzung des Papsttums herauszulesen ist. Das hat die frühe Kirche ebenfalls so gesehen. Petrus steht hier vielmehr für den richtigen Glauben an Christus. Christus ist der eigentliche Fels, auf den die Kirche gebaut wurde. Dieser Überzeugung war bereits Augustinus. Für ihn ist nicht Petrus der Fels, sondern Jesus Christus: »Denn nicht von Petrus hat die Petra (lat. für »Fels«), sondern Petrus von der Petra ... den Namen. Auf diesem Fundament ist auch Petrus selbst erbaut. Denn ein anderes Fundament kann niemand legen als das, welches gelegt ist, welches ist Jesus Christus (1 Kor 3,11)« (Luz, 477). Der Kirchenvater Origenes sieht Petrus als Urbild des Jüngers, der wie Petrus das wahre Christusbekenntnis verkündet: »Fels ist nämlich jeder Jünger Christi, der aus dem geistlichen Felsen Christus (1 Kor 10,4) trinkt« (Luz, 474).
Die Exegese der griechischen Kirchenväter deutet den Felsen auf den Glauben beziehungsweise das Gottessohnbekenntnis des Petrus. So meint Theodor von Mopsuestia: Das Bekenntnis des Petrus »ist nicht dem Petrus allein zu eigen, sondern geschah für alle Menschen: Indem Jesus sein Bekenntnis einen Felsen nannte, machte er deutlich, dass er darauf die Kirche bauen werde« (Luz, 476f). Die römische beziehungsweise kirchliche Deutung auf Petrus und die Päpste als Nachfolger ist als eine weiterführende Auslegung möglich. Aber sie ist eben eine Fortschreibung und im Text selbst so nicht angelegt. Und zurecht weist der schweizer Neutestamentler Ulrich Luz darauf hin, dass die Deutung der biblischen Texte immer auch von zeitgeschichtlichen Situationen abhängig ist. Er sieht in diesem Text nicht das Petrusamt, sondern den Petrusdienst als bleibende Grundlage der Kirche. Der Petrusdienst ist für ihn »die öffentliche Bezeugung des ungekürzten Christusglaubens und die bleibende Verpflichtung der Kirche auf das Programm Jesu« (Luz, 472).
Kontrovers diskutiert wurde auch Vers 19 dieses Abschnitts. Katholische Exegeten haben diese Worte oft auf die Vergebung der Sünden im Bußsakrament hin ausgelegt. Doch das ist ebenfalls eine Fortschreibung, die zwar möglich, aber im Text selbst nicht intendiert ist. Zunächst geht es um das Bild der Schlüssel: Wer die Schlüssel besitzt, hat die Vollmacht über die Räume. Doch worin besteht die Schlüsselgewalt des Petrus? Im Text wird nicht mehr vom Öffnen und Schließen gesprochen, sondern vom Lösen und Binden. Wenn wir diese Worte auf dem Hintergrund jüdischen Denkens verstehen, so beziehen sie sich auf die richtige Gesetzesauslegung durch die jüdischen Lehrer. In Mt 23,13 klagt Jesus die Schriftgelehrten an, sie würden das Himmelreich vor den Menschen verschließen. Im Gegensatz zu den Schriftgelehrten ist es die Aufgabe des Petrus und der Kirche, die sich auf ihn beruft, »das Himmelreich für die Menschen zu öffnen, und zwar durch seine verbindliche Auslegung des Gesetzes. Er soll den Willen Gottes von Jesus her auslegen, um so die Menschen auf denjenigen schmalen Weg zu führen, an dessen Ende die schmale Pforte zum Himmelreich aufgeschlossen wird (vgl. Mt 7,13f). Der Schlüssel zum Himmel sind also die Gebote Jesu, die Petrus verkündigt und auslegt (vgl. Luz, 466).
Bernd Deininger
Bernd Deininger
Das rechte Maß • Matthäus 13,24–30
Das Nachdenken über die Begrenztheit unseres Daseins hat die Menschen schon seit Urzeiten beschäftigt. Dieses Nachdenken ist unmittelbar mit der Frage nach dem Ursprung des Lebens verknüpft. Für viele steht am Ende dieser Frage die Erkenntnis, dass es etwas dem menschlichen Leben Übergeordnetes gibt, das ganz zu Beginn steht. Ob dieser allumfassende Ursprung nun als das Absolute bezeichnet wird oder ob wir dafür den Begriff »Schöpferische Kraft« oder im christlichen Sinn den Namen »Gott« einsetzen, erscheint nicht entscheidend. Wenn über Gott gesprochen wurde, war dies meist nur in Reflexionen möglich, die sich auf Gott bezogen entwickelt haben.
Diese Vorstellungen konnten durchaus logisch und klar durchdacht sein, aber das Numinose, das alles Umfassende, eben das, was wir Gott nennen, nicht verstandesmäßig begreifen. Auch der historische Jesus hat über Gott, den er seinen Vater nannte, gesprochen. Und wie wir aus den Evangelien herauslesen können, tat er dies nicht in Form einer theologischen Reflexion, sondern häufig in Gleichnissen. In gleichnishafter Weise zu reden bedeutete in der Erklärung, was Gott sein könnte und was dessen Wille ist, einen radikalen Verzicht gegenüber jedweder Art von theologischen Meinungen. Jesus hat, wie wir dem Neuen Testament entnehmen können, eben auch deshalb in gleichnishafter Weise geredet, weil es für ihn erst einmal keine rationalen und sachlogischen Erklärungen gab, um Gott in seiner Ganzheit zu verstehen. Das für uns als heutige Menschen Beeindruckende an der Rede Jesu in Gleichnissen ist, dass er einen Versuch macht, den seelischen Strömungen des Menschen nachzugehen und die Fragen seines Gegenübers so aufzugreifen, dass sie sich in dessen eigenem Leben widerspiegeln und verdichten.
Hinter dem Gleichnis vom Unkraut im Weizen steht eine uralte Menschheitsfrage, die sich weder individuell noch allgemein einfach lösen lässt: Wie kann man Gut und Böse voneinander unterscheiden? Was ist falsch und was ist richtig? Wie steht es mit dem offensichtlich Leidvollen in der Welt und warum lässt der allumfassende Schöpfergott dies alles geschehen? Wir Menschen wünschen uns auf diese Fragen eine Antwort, obwohl wir beim Nachdenken spüren, dass es keine allumfassende Antwort geben kann. Dies war zu Zeiten Jesu nicht anders. Auch er, den seine Jünger »Meister« nannten, wurde immer wieder aufgefordert, sich gegen das vermeintlich Böse aufzulehnen, gleiches Recht für alle zu schaffen und gegen die Besatzungsmacht der Römer mit Waffengewalt vorzugehen. Dahinter stand der Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit, so wie wir es auch heute am Beginn des 21. Jahrhunderts an vielen Orten in der Welt beobachten. Bei genauerer Betrachtung und mit Blick auf die menschliche Geschichte wird deutlich, dass jedoch Unfreiheit und Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Leid das menschliche Dasein dominiert haben. Und wie damals die Jünger Jesus bedrängten, so können wir auch heute als Glaubende fragen: Warum greift Gott nicht ein, warum lässt er all das zu? Warum gibt es keinen Sieg des Guten über das Böse?