Das gilt nicht nur für gesellschaftliche Gruppierungen, sondern findet sich auch im seelischen Erleben einzelner Menschen wieder. Von klein auf hören viele Menschen auch heute noch: Wir müssen das Böse unterdrücken und beherrschen, jeden Tag moralisch einwandfrei leben, alles, was störend ist, niederhalten und verdrängen. Daraus entstehen »Unkraut« und Missgunst. Gott will, dass wir nichts auseinanderreißen, sondern gerade aus der Spannung, aus den Gegensätzen, aus den Widersprüchen reifen, am Leben teilnehmen und daraus das rechte Maß entwickeln.
Das rechte Maß zu finden heißt daher nach diesem Gleichnis: nichts ausreißen und nichts zerstören, was in uns vorgeht. Wir lernen, dass kein menschliches Problem dadurch gelöst wird, sich mit schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch zufriedenzugeben, sondern dass neben dem Positiven auch Negatives da sein darf, dass neben dem Korn auch Unkraut wachsen muss, damit sich das gesellschaftliche, aber auch das individuelle Leben sinnvoll entwickeln kann. Insofern ist es eine Grundaussage: Bei Gott darf alles wachsen. Wenn wir dieses Vertrauen in Gott haben, warum nicht auch in den Menschen, der eine in den anderen? Das Anerkennen, dass in uns und auch im anderen alles wachsen darf, schafft Beziehungen in Ehrlichkeit und Wahrheit, die ein kreatives und lebendiges Leben möglich machen.
Bernd Deininger
Die Mächtigen – als Täter und Opfer • Matthäus 14,1–12 und Markus 6,17–29
Johannes der Täufer gilt als Wegbereiter Jesu und als dessen Lehrer. In den Evangelien bei Markus und Matthäus werden die besonderen Umstände seines Todes mit einem dramatischen Akzent versehen, weshalb diese Geschichte eine starke und anhaltende literarische Verwertung erfuhr. Hier stehen sich große Gegensätze gegenüber: Es geht um Recht und Ordnung gegen Leidenschaft, um Körperlust gegen Tod, um Schönheit und Ästhetik gegen Brutalität und Grausamkeit, um verführerischen Tanz und bedrohlichen Absturz.
Die Figur der Salomé ist in den biblischen Quellen nicht begründet. Sie kommt aber namentlich bei dem bedeutenden Geschichtsschreiber des jüdischen Volkes, Flavius Josephus, vor. Er berichtet von einer Salomé in den »Antiquitates Judaicae«. Salomé bewegt sich innerhalb der komplizierten Beziehungen des Herodes-Hauses, die von Inzest und Mord geprägt sind. Ihre Mutter Herodias hat sich von ihrem ersten Mann Phillippus, einem Bruder des Herodes, getrennt und in zweiter Ehe Herodes geheiratet. Salomé entstammt ihrer ersten Ehe, der im biblischen Text beschriebene Herodes Antipas ist also nicht ihr leiblicher Vater, sondern ihr Stiefvater und Onkel. Herodes hat wegen der leidenschaftlichen Liebe zu Herodias seine erste Frau verlassen und seinen Bruder (eigentlich Halbbruder) verstoßen. An diese Genealogie des Herodes-Hauses, die von Flavius Josephus niedergelegt ist, knüpfen die Evangelisten an, verbinden die historische Salomé-Figur mit der Geschichte von Johannes dem Täufer und bringen sie in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dessen Enthauptung.
In der Erzählung werden zwei Grundmotive deutlich. Das erste ist der Konflikt zwischen Herodes und Johannes: der eine lebt im Luxus, der andere nimmt freiwillig Entbehrungen auf sich und wird so zum Propheten und Vorbild für viele Menschen. Das zweite und destruktivere Motiv ist die Feindschaft der Herodias gegenüber Johannes, die es dem Propheten verübelt, dass er auf den doppelten Ehebruch des Königspaares hinweist. Die biblische Erzählung geht zudem auf eine frühere Erzählung aus dem antiken Rom zurück. Der römische Schriftsteller Livius berichtete nach einer Anklageschrift des Cato, dass der Konsul Flaminius etwa 192 v. Chr. während des Krieges gegen die Gallier bei einem Mahl einen Gefangenen erschlug, um seinen Lustknaben das Schauspiel einer Enthauptung zu bieten. Das wurde in die Erzählung des Johannes auf die geeignete Konstellation in Judäa übertragen. Die weibliche Rolle in der biblischen Geschichte wurde auf zwei Personen verteilt: die intrigante Mutter und die bestrickende Tochter.
Den Kirchenvätern war Salomé ein Dorn im Auge. Ihr Tanz wurde als Warnung vor dem den Frauen zugeschriebenen Verführungspotenzial gedeutet. Johannes Chrysostomos beispielsweise wies darauf hin, dass Gott den Menschen die Füße nicht zum Tanz gegeben habe, sondern um damit auf dem rechten Weg zu wandeln. Augustinus gestaltete den Märtyrertod des Johannes aus. Herodias wurde zur bösen treibenden Kraft, die Tochter wurde dann in der späteren Dichtung mit einer grellen Leidenschaftlichkeit gezeichnet.
Ganz anders ausgedeutet wurde das Motiv in Oscar Wildes Tragödie »Salomé«: Das Schöne stellt sich im Bösen dar. In diesem Werk vollendet Wilde die Emanzipierung der Salomé-Figur zur existenziellen Außenseiterin und stellt sie an die Seite anderer jüdischer Schicksalsschwestern wie Judith und Dalila. Bei Wilde ist Salomé weder die Erfüllungsgehilfin ihrer Mutter noch Spielball der stiefväterlichen Launen. Wilde zeigt die Bestrickung des Herodes durch Salomés Tanz. Tanz und Bitte geschehen also nicht auf Wunsch der Mutter, obgleich Herodias glaubt, dass Salomé ihr zuliebe die Forderung stellt, sondern Salomé tanzt in eigener Sache, um sich an Johannes, der sie abgewiesen hat, zu rächen.
Wer war nun dieser Johannes aus den Evangelien, dieser »größte aller Propheten«, wie Jesus ihn nannte? Er setzte sich mit verzehrender Leidenschaft für Recht und Ordnung ein und taucht in der Bibel im Habitus der altisraelitischen Propheten auf: einfach gekleidet, ohne den geringsten Luxus, ernährte er sich von Heuschrecken und Honigwasser. Er zog durch die Dörfer und Landschaften und wies die Menschen, die ihm begegneten, auf ihre Schuld vor Gott hin. Es ist zu vermuten, dass auch Jesus diesen Propheten traf, ihm gefolgt ist und ihn wohl anfangs als seinen Lehrer akzeptierte. In Johannes sprach ein Mensch authentisch davon, wie ein gottgefälliges Leben aussehen könnte. Er konnte glaubhaft vermitteln, dass Gott durch ihn spricht und in ihm in seiner menschlichen Gestalt lebendig wird. Der Hinweis auf die Schuld des Menschen spielte bei Johannes eine wichtige und tragende Rolle. Dies hat ihm letztendlich, wie oben erwähnt, auch die Feindschaft von Herodes und Herodias eingebracht.
Wir können uns Johannes und Jesus als Brüder vorstellen, die beide vom Geist Gottes erfüllt waren, die aber auch deutlich menschliche Züge in der Beziehung zu Gott, ihrem Vater, hatten. Das schärft den Blick für die psychische Seite des Johannes: Als er Jesus im Jordan taufte, öffnete sich der Himmel und die Stimme des Vaters sagte zu Jesus: »Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe«. Was mag in diesem Moment in Johannes, in diesem Fall dem psychologisch gesehen älteren Bruder, vor sich gegangen sein? Gab es Neidgefühle dem Jüngeren gegenüber, der vom Vater in dieser Weise bevorzugt wurde? Hat er aufkeimende Neidgefühle umgewandelt, indem er Buße und Schuld predigte, um so in ganz besonderer Weise dem Vater imponieren zu können und von ihm ein ähnliches Lob zu erhalten? Dann könnte dies auch als eine Abwehr eigener negativer Gefühle gedeutet werden, die aber zu ganz normalen seelischen Vorgängen gehören, wie sie bei jedem Menschen ablaufen.
Johannes sah große Teile der Gesellschaft, in der er sich bewegte, auf eine Katastrophe zutreiben. Er versuchte durch die Taufe Menschen aufzuwecken und zu einem neuen, von Gott geprägten Leben zu bringen. Er stellte sich den Messias wohl auch als einen unnachgiebigen Richter vor, der zwischen gut und böse, Heil und Verlorensein, zwischen krank und gesund unterscheidet. Aber der neue Messias, Jesus, setzt sich gegen die Moral des Täufers ab. Er steigert die Drohungen seines Lehrers nicht weiter, macht sich nicht zum Richter, sondern er stellt Barmherzigkeit und Liebe in den Vordergrund. Die unerhörte Größe Jesu, die über die drohende Gestalt des Täufers hinausführt, zeigt den göttlichen Willen als Arzt und als Heiler, nicht als einen Richter. Dennoch ist festzuhalten, dass das Wirken Jesu ohne den aufrüttelnden Johannes wohl nicht so verlaufen wäre. Insofern kann Johannes tatsächlich als der psychologisch gesehen ältere Bruder Jesu bezeichnet werden.
In der