Das Verstehen richtet sich zunächst auf uns selbst. Wir sollen uns nicht verurteilen, wenn wir in uns masochistische oder sadistische Gedanken vorfinden, wenn wir voller Ängste und Zwänge sind, wenn Aggressionen uns beherrschen. Wir sollen verstehen, woher sie kommen und was sie uns sagen wollen. Wer sich selbst versteht, der kann zu sich stehen. Wer zu sich selbst steht, ist auch bereit, weiter zu wachsen. Jesus zeigt ihm den Weg, wie er durch die Wirklichkeit hindurch, die er in sich erlebt, zu dem einmaligen Menschen werden kann, als den Gott ihn gewollt hat.
Verstehen, statt zu verurteilen bezieht sich aber nicht nur auf unsere Schattenseiten. Es geht auch darum, sich selbst in seiner Würde zu verstehen. Jesus hat uns immer wieder auf unsere unantastbare Würde verwiesen. Er hat uns aufgezeigt, dass wir Söhne und Töchter Gottes sind. Gerade in den Worten des Johannesevangeliums hören wir, dass wir nicht nur von der Erde, sondern auch von Gott sind. Diese Worte klingen manchmal sehr spirituell. Aber wir werden unserem Wesen nicht gerecht, wenn wir nicht zugleich verstehen, dass wir durch Jesus eine göttliche Würde erhalten haben.
Wer sich selbst versteht, statt sich zu verurteilen, wird auch andere versuchen zu verstehen, ohne sie zu bewerten. Wir sind häufig schnell damit, andere zu bewerten, uns über sie zu entrüsten, sie zu verurteilen. Doch damit stellen wir uns über sie. Und wir projizieren oft genug unsere eigenen Schattenseiten auf die anderen. Anstatt uns der eigenen Wahrheit zu stellen, schauen wir voller Schadenfreude auf die Fehler anderer. Das spaltet die Gesellschaft. Wir machen den anderen zum Sündenbock, auf den wir allen Dreck werfen. Solange wir aber den Schmutz im eigenen Herzen nicht anschauen und verwandeln lassen, werden wir immer neue Sündenböcke brauchen, auf die wir das Verdrängte in uns projizieren. Gegen diese spaltende Tendenz hat Jesus das berühmte Wort vom Splitter im Auge des Bruders und vom Balken im eigenen Auge gesetzt (vgl. Mt 7,3f). Jesus weist uns dagegen darauf hin, dass wir den anderen immer als Spiegel für uns selbst sehen sollen. Alles Negative, das wir im anderen entdecken, wirft ein Licht auf das Dunkle in uns selbst. Jesus fasst das in dem Wort, das Bernd Deininger ausgelegt hat: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie« (Joh 8,7). Wenn wir aufhören, einander zu verurteilen, wird ein neues Miteinander möglich.
Wer sich als Sohn oder Tochter Gottes versteht, der sieht auch den anderen mit neuen Augen. Er wird auch in ihm den Himmel entdecken, so wie Jesus im Sünder Zachäus den Himmel sieht. So führt das Verstehen des eigenen Menschseins und des anderen mit seinen Schattenseiten, aber auch mit seiner göttlichen Würde, zu einem neuen Miteinander, bei dem wir uns annehmen, in dem wir einander einen Raum ermöglichen, weiter zu wachsen, uns zu verwandeln und dem Bild immer ähnlicher zu werden, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat.
Anselm Grün, Bernd Deininger
Anselm Grün
»Keiner kann dich verletzen, außer du selbst« • Matthäus 7,24–27 und Lukas 6,47–49
Jesus schließt die Bergpredigt mit einem Gleichnis ab. Er will damit eindrücklich zeigen, dass es nicht genügt, seine Worte nur zu hören. Es geht darum, sie auch zu tun. Er verwendet hier das griechische Wort poiein, es bedeutet: die Worte in Handeln übersetzen. Aber poiein heißt auch: kreativ mit diesen Worten umgehen, sich von den Worten zu neuen Verhaltensweisen anregen lassen, die ganz neue Wege eröffnen gegenüber dem, was alle tun. Der östliche Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos schätzt gerade diese Methode Jesu, nicht einfach Forderungen aufzustellen, sondern durch eine bildhafte Rede uns das, was er sagen möchte, eindrücklicher vor Augen zu stellen. Chrysostomos schreibt: »Hätte er (Jesus) nur gesagt, der Tugendhafte werde unüberwindlich sein, der Böse dagegen leicht zu besiegen, so hätte dies doch nicht den gleichen Eindruck gemacht wie jetzt, da er von einem Felsen redet und einem Haus, von Flüssen, Regen und Sturmwinden und anderen derartigen Dingen« (Matthäus-Kommentar, 24. Homilie, 103).
Das Symbol Haus steht immer auch für das Lebenshaus des Menschen. Im Traum beschreibt das Haus den Bewusstseinszustand des Menschen. Der Keller steht für das Unbewusste, das Wohnzimmer für die bewussten Bereiche, in denen wir leben. Die Frage ist dann, ob wir unser Lebenshaus auf Felsen oder auf Sand bauen. Auf Sand bauen wir es, wenn die Grundlagen Illusionen sind, etwa die, dass wir alles im Griff haben, dass uns nichts passieren kann. Illusionen sind auch zu große Bilder von uns, beispielsweise, dass wir immer perfekt und erfolgreich und cool sein müssen. Ein solches »Haus« wird bald zusammenbrechen. Es sollte also besser auf Felsen stehen. In der Bibel wird Gott oft als Fels beschrieben. Das meint nicht nur, dass wir unser Haus auf Gott aufbauen sollten, sondern zudem auf feste Grundsätze, die unserem Wesen entsprechen.
Wir können es auch als gemeinsames Haus bauen: das Haus unserer Ehe und Familie. Auch dann stürzt das Haus schnell zusammen, wenn die Grundlage Illusionen sind. Der Eheberater Hans Jellouschek nennt einige solcher Illusionen, die das Haus einer gemeinsamen Ehe leicht zum Einsturz bringen. Da ist etwa die Illusion, in der Ehe würden wir immer Nähe erfahren. Eine Beziehung braucht dagegen Nähe und Distanz. Wer nur die eine Seite erleben will, wird bald erfahren, dass zu große Nähe Aggressionen erzeugt und so das Haus der Ehe zum Einsturz bringt. Eine andere Illusion ist, dass wir in der Ehe immer glücklich sind. Jellouschek meint, die Ehe sei keine Glücksveranstaltung, sondern ein Übungsweg, auf dem wir immer wieder Glück erfahren dürfen. Sowohl das Haus unserer Ehe als auch das Haus unseres Unternehmens oder unserer Institution sollen wir auf felsigen Grund bauen, das sind kluge Maßstäbe. Und letztlich ist Gott selbst beziehungsweise Christus der Fels, auf den wir unser Haus bauen. Jesus versteht seine Worte selbst als den Felsen. Wenn wir uns nach ihnen richten, wird unser Haus alle Stürme und Regengüsse aushalten.
Johannes Chrysostomos deutet die Regengüsse als »die menschlichen Schicksale und Leiden, wie zum Beispiel Verleumdungen, Nachstellungen, Trauer- und Sterbefälle, Verlust des Eigentums, Kränkungen durch andere, überhaupt alles, was man die Unbilden des Lebens nennen kann« (Matthäus-Kommentar, 100f). Als Felsen sieht der Kirchenlehrer die Lehre Jesu: »Seine Satzungen sind ja fester als Gestein und machen, dass man über alle menschlichen Schicksalsschläge erhaben wird« (Matthäus-Kommentar, 101). Er ist der Ansicht, dass Menschen uns nicht wirklich schaden können, denn Jesus hat uns gelehrt, das Eigentum loszulassen. Wir sind also sozusagen schon in der Welt gekreuzigt. So kann uns niemand, der uns etwas Weltliches raubt, schaden. Er meint: »Wer auf einen Diamanten schlägt, verletzt sich eben nur selbst; und wer gegen den Stachel ausschlägt, wird selbst gestochen und schwer verwundet. Ebenso bringt sich selbst in Gefahr, wer den Tugendhaften Nachstellungen bereitet« (Matthäus-Kommentar, 105).
Interessant ist, dass Johannes Chrysostomos im vierten Jahrhundert nach Christus dieses Gleichnis im Dialog mit der stoischen Philosophie deutet. Er interpretiert es von einem Grundsatz aus, den der Philosoph Epiktet etwa 100 nach Christus aufgestellt hat. Die stoische Philosophie könnte man vergleichen mit dem, was heute die Psychologie ist. Ihr geht es darum, wie das Leben gelingen kann. Sie stellt dazu letztlich psychologische Grundsätze auf. Einer lautet: »Keiner kann dich verletzen, außer du selbst«. Zu diesem Grundsatz gehört noch ein weiterer: »Nicht die Menschen verletzen dich, sondern die Dogmata, die Vorstellungen, die du dir vom Menschen machst«. Beide Grundsätze klingen sehr rational. Man darf sie sicher auch nicht verabsolutieren. Aber Chrysostomos scheut sich nicht, diesen Grundsatz christlich zu deuten. Er hat darüber eine ganze Abhandlung geschrieben: »Dass niemand verletzt wird, außer durch sich selbst« (PG 52,459–480). Er möchte in seiner Rede zeigen, »dass kein Opfer Opfer eines anderen ist, sondern sein von ihm selbst verhängtes Geschick erleidet« (PG 52,461). Für ihn liegt die eigentliche Kraft des Menschen in der richtigen Vorstellung, die er sich vom Leben macht, und in der Geradheit und Stimmigkeit seines Lebens. Der Mensch, der die rechte Vorstellung von der Wirklichkeit hat, kann durch äußere Dinge keinen Schaden erleiden. Das zeigt der Kirchenvater am Beispiel Hiobs: Das äußere Unheil konnte ihm nicht schaden, weil er im Glauben an Gott die richtige Vorstellung von der Wahrheit hatte, weil er die richtigen Maßstäbe an die Beurteilung der äußeren Dinge anlegte. An biblischen Geschichten wie der von Joseph, den drei Jünglingen im Feuerofen und von Paulus versucht er zu beweisen, »dass der, der sich selbst nicht verletzt, von keinem anderen verletzt werden kann, auch wenn die ganze Welt einen heftigen Krieg gegen ihn führt« (PG 52,473).
Die Richtigkeit dieser