Aber welcher Mächtige lässt es sich gefallen, dass er auf Unrecht, das er begangen hat, hingewiesen wird? Wann wären je die Herrschenden imstande gewesen, Fehler zuzugeben, womöglich noch in ihrem eigenen privaten Bereich? Wie wir es auch heute in unserer Zeit sehen, gelingt das nicht. Dabei spielt es keine Rolle, welche Art von Macht jemand besitzt. Es kann die Macht über ein politisches Amt sein, aber auch die des Geldes oder eines Wirtschaftskonzerns. Letztendlich gilt das für alle. Wir sehen es immer wieder: Wenn sich zeigt und an die Öffentlichkeit kommt, dass Menschen oder Unternehmen korrupt sind, vertuschen und verdrängen, bleiben die Möglichkeiten, zurückzutreten oder ins Nichts, ins Namenlose gestoßen zu werden. Eine dritte Möglichkeit ist, alles zu leugnen und um den Erhalt der Macht zu kämpfen. Viele beschreiten dann diesen Weg. Die Mächtigen werden so lange lügen, wie sie können, sie werden so lange intrigieren, wie sie müssen, und immer mehr mit ihren eigenen Taten verschmelzen. Die biblische Geschichte bildet also in vielerlei Hinsicht die aktuelle Situation in weiten Bereichen der Welt ab.
Herodes ist als Herrscher eigentlich willens, Johannes umbringen zu lassen, hat aber Angst vor seinem Volk, Angst, gegen den Willen der Mehrheit öffentlich eine Handlung zu vollziehen, die ihn in Misskredit bringen kann. Was die Menge denkt, hat offensichtlich auf die Machthaber einen entscheidenden Einfluss. Häufig wird deshalb die Macht überschätzt, die Menschen sich selbst zuschreiben, wenn man nicht versteht, wie abhängig gerade die Herrschenden vom Urteil der Masse sind. In König Herodes verdichtet sich eher die Schwäche als die vermeintliche Stärke der Macht. Daneben erscheint Herodias in der Erzählung als die wirkliche Antreiberin, als die eigentliche Verführerin. Die Hinrichtung wird von ihr berechnend mit einer skrupellosen Zielstrebigkeit in Szene gesetzt.
Was kann für diese Frau aber ein tieferliegendes, psychologisch erklärbares Motiv gewesen sein? Wäre es zum Beispiel denkbar, dass diese Frau in ihrem tiefsten Inneren von einer leidenschaftlichen Liebe zu ihrem jetzigen Mann und Partner getrieben wurde? Wenn dies so wäre, dann müsste man eine Vorgeschichte zu ihrem Ehebruch denken. Könnte es so gewesen sein, dass sie in einer jahrelang unglücklichen Ehe gelebt hat, einen Mann wählen musste, den sie nicht liebte, weil man ihn ihr aufzwang, sie in dieser Ehe immer mehr verkümmerte und merkte, dass sie innerlich zu sterben begann? Als sie dann ihre Leidenschaft dem Halbbruder gegenüber spürte, hat sie vielleicht einen Entschluss gefasst, alle alten Bindungen hinter sich zu lassen und sich in ein Abenteuer zu stürzen, wie sie es bislang nicht kannte. Wenn dies so wäre, dann hätten wir eine Frau vor uns, die es in ihrer Verzweiflung gewagt hat, alles auf eine Karte zu setzen; sie wäre dann nicht hinterhältig oder verbrecherisch, sondern eher mutig und entschlossen.
Aber jetzt, wo sie alles erreicht hat, wofür sie gekämpft und viel riskiert hat, fühlt sie sich vom Täufer bedroht und ihrer neuen Existenz beraubt. Was hat denn dieser Moral predigende Mann für ein Recht, in den Zentren der Macht zu agieren und das Volk zum Widerstand aufzuhetzen? Wie kommt er dazu, sich in ihr Privatleben einzumischen und sie moralisch zu verdammen, wo er doch keine Ahnung von ihrer Vorgeschichte hat? Da drängt sich jemand in eine Sphäre, in die er nicht hineingehört, in der er nichts verloren hat. Wenn man die Figur der Herodias so betrachtet, würde alles etwas verständlicher. Weil er ihre Liebe bedroht, hasst Herodias den Täufer. Sein radikaler Moralismus gefährdet ihr mühsam aufgebautes Lebensglück. Um die Empfindungen, die Triebe und Affekte noch besser zu verstehen, muss man hinzufügen, dass Herodias durchaus weiß, dass sie gegen Ordnung und moralische Vorgaben verstoßen hat und eigentlich spürt, dass Johannes mit seiner Kritik richtig liegt.
Was passiert aber, wenn es nicht wahr sein darf, was geschehen ist, wenn der Betroffene mit diesen Wahrheiten überhaupt nicht leben kann? Wenn er, um weiterleben zu können, die Gefühle von Schuld und Vorwurf zur Seite schieben muss? Wie geht es Menschen, die in ein wirkliches Leben, in dem sie eine Chance haben, glücklich zu werden, nur um den Preis der Schuld eintreten können und hinter ihre Entscheidung dazu weder zurück wollen noch zurück können? Und dann stehen sie einem Menschen gegenüber, der nicht aufhört zu sagen: »Ehe sich diese Tatsache in deinem Leben nicht ändert, kann nichts in Ordnung kommen. Du kannst so nicht weiterleben, du musst wieder zurück«. Es gibt aber kein Zurück. Das versteht dieser Mensch mit seiner Moral und seiner Rechthaberei jedoch nicht. Was weiß er schon von der Liebe und den Gefühlen einer vernachlässigten und unglücklichen Frau? Er kennt keine tiefergehende Beziehung zu einem anderen Menschen, weil er asketisch lebt und nur Moral und Ordnung gelten lässt.
Es gibt auch noch weitere Tatmotive, zum Beispiel bei Herodes selbst. Er wollte eine Frau, mit der er eine leidenschaftliche Liebe leben kann. Warum also sollte er diese Frau öffentlich beleidigen lassen? Diesem Mächtigen fällt es jedoch schwer, sich mit der Schuld auseinanderzusetzen, die er auf sich geladen hat, als er die Frau seines Bruders zur Geliebten und Gattin nahm. Er versteckt sich hinter den Frauen, schiebt die Entscheidung Herodias und ihrer Tochter zu.
An dieser Stelle kommt dann die junge Frau in die Geschichte. Sie fordert den König zu einem Verbrechen auf, an dem sie selbst eigentlich kaum ein Interesse hat. Sie ist lediglich gehorsam ihrer Mutter gegenüber und fordert den Kopf des Täufers aus der Treue eines Kindes zu seiner Mutter. Aber es geht auch um mehr. Die Kulturgeschichte hat gezeigt, dass in Dichtung, Musik und Malerei der Tanz der Salomé in seiner morbiden Laszivität aufgegriffen und entsprechend dem Zeitgeschmack interpretiert worden ist. Die Tochter der Herodias wurde zum Inbegriff der tödlichen Macht weiblicher Verführung. Die Angst vor der kastrierenden Frau und die Sehnsucht nach der Kindfrau verschmelzen hier zu einem faszinierend-gruseligen Albtraum. Der weibliche Eros, der in Salomé Gestalt gewinnt, mobilisiert die männliche Lust zur Zerstörung, die Grausamkeit des Begehrens und den tödlichen Wunsch, zu besitzen.
Salomé bleibt die mächtige Verführerin, die ihrer Mutter zeigt, dass der lüsterne Stiefvater eigentlich lieber zu ihr ins Bett steigen würde als zu seiner alternden Gattin. Unter dem Mantel der Treue des Kindes zu seiner Mutter zeigt sich die Rivalität zwischen Frauen, die gnadenlos mit ihrer erotischen Kraft versuchen, sich gegenseitig auszustechen. Dieser ödipale Konflikt wird über den biblischen Text hinaus insbesondere in Oscar Wildes Tragödie dargestellt.
Werfen wir nun noch einmal einen Blick auf die gesamte Motivkette der Akteure dieses biblischen Dramas: Am Anfang steht die Schonung des Täufers aus der Angst des Königs vor der Meinung der Masse. Dann gibt es den Mut zum Ehebruch aus einer nicht erfüllten Liebe, entwickelt sich Hass auf den Menschen, der die Moral einklagt, um ein Leben zu schützen, das nie mehr in Ordnung kommen kann. Ein Eid wird geschworen, der wie ein Zwang wirkt, am Ende das zu tun, was man versprochen hat, und daraus entsteht eine Geschichte, in deren Mitte Menschen stehen, die vieles eigentlich nicht wollten, was sich so dramatisch ereignet hat. Sie sind sowohl Opfer als auch Täter, Getriebene ebenso wie Treibende.
Wie können wir nun in einer Welt zusammenleben, in der es Menschen gibt wie Herodes, Herodias, Salomé und all die anderen, die exemplarisch für unsere heutige Zeit stehen? Ein Weg wäre die Haltung Jesu, die uns eine andere Sichtweise ermöglicht. Stellen wir uns vor, es gäbe keine Vorwürfe mehr, nicht länger das Drohen mit erhobener Faust, sondern wir würden die Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, über eine längere Zeit begleiten. Herodias zum Beispiel müsste lernen, wie sie ihr Glück in der Liebe finden kann, sodass es für sie innerlich stimmt. Sie müsste Spielräume für ihre Gefühle zulassen, damit sie spürt, mit sich im Einklang ist und in Verhältnisse hineinfindet, die sie wirklich leben lassen. Ist es so einfach, dass wir sagen: Ehebruch ist Ehebruch und Wiederheirat ist Sünde? Kann man so urteilen, ohne irgendetwas aus der Vorgeschichte der jeweiligen zu wissen? Was geht in einer solchen Frau vor? Wenn man danach nicht fragt, versteht man weder den Menschen noch das, was Gott im Umgang mit Menschen meint.
Und wie bringt man einen Menschen wie Herodes dazu, nicht ständig auf die Wahlumfragen des nächsten Wochenendes zu schielen und zu registrieren, was die Masse denkt und von ihm erwartet? Wie führt man