Chrysostomos deutet den Fall des Hauses nicht wie manche Exegeten auf das Schicksal nach dem Tod. Er beschreibt vielmehr, dass die, die ihr Haus auf Sand bauen, schon im Jetzt immer wieder erleben müssen, was Jesus von diesem Haus sagt: »Sein Fall war groß« (Mt 7,27). Denn der, der sich vom Bösen leiten lässt und nicht von den Worten Jesu, muss »ein ganz elendes Leben führen in steter Begleitung von Furcht, Mutlosigkeit, Sorgen und Kämpfen. Das hat auch ein weiser Mann angedeutet mit den Worten: ›Der Gottlose flieht, ohne dass ihn jemand verfolgt‹ (Spr 18,1). Solche Leute zittern vor Schatten, sind voll Argwohn gegen Freunde, Feinde, Diener, Bekannte und Unbekannte, und leiden schon hienieden die schwersten Strafen, noch bevor sie von denen im Jenseits betroffen werden« (Matthäus-Kommentar, 107). Interessant ist, dass er die Menschen, die ihr Haus auf Sand bauen, beinahe aus psychologischer Sicht beschreibt: Sie haben hier schon ein angstbesetztes und unruhiges Leben. Sie spüren, dass es auf keinem guten Fundament steht, und leben ständig in der Angst, dass ihr Haus zusammenfallen könnte.
Mit dieser Deutung des Gleichnisses vom Haus auf dem Felsen interpretiert Chrysostomos zugleich die ganze Bergpredigt. Diese besteht für ihn nicht in erster Linie aus moralischen Folgerungen. Vielmehr beschreibt Jesus in der Bergpredigt die richtigen Vorstellungen, die wir uns vom Leben und von unserem Miteinander machen sollen. Jesus ist der Weisheitslehrer, der uns zeigen möchte, wie Leben gelingt. Für den Kirchenlehrer Chrysostomos besteht kein großer Unterschied zwischen der psychologisch geprägten stoischen Lehre des Epiktet und der Bergpredigt Jesu. Doch die wahre Weisheit liegt in seinen Augen bei Jesus. Jesus stellt nicht nur Forderungen auf. Er beschreibt in vielen Bildern und Beispielen, wie Leben gelingt. Und ein wichtiger Weg, den Jesus in der Bergpredigt aufzeigt, ist, dass wir uns nicht als Opfer von Feinden fühlen sollen, sondern dass wir die Feinde lieben sollen. Dann können sie uns nicht verletzen. Denn nicht der Feind selbst verletzt uns, sondern die Vorstellung, die wir von ihm haben und die er von uns hat. Feindschaft hat immer mit Projektion zu tun: Wir projizieren das auf den anderen, was wir an uns selbst ablehnen. Wenn wir die Projektion auflösen, ist eine gute Beziehung zum vermeintlichen Feind möglich.
Bernd Deininger
Aufruf und Mut zum Leben • Matthäus 12,22–23
An vielen Stellen in der Bibel finden sich Texte, die unmittelbar in die Gegenwart hineinführen. So wird zum Beispiel die Frage erörtert: Wie menschlich und frei darf der Glaube an Gott sein? Ist Gott in der inneren Vorstellung eines Menschen nicht einfach das strafende eigene Über-Ich oder gar eine verinnerlichte Traumatisierung, die viele Menschen in ihrer psychischen Entwicklung erlitten haben? Oder die Angst vor Elterngestalten, die die Möglichkeit zur Entwicklung eines selbstbewussten Menschen behindert haben?
Der Text bedarf einer Auslegung, um die Heilung der Besessenheit, von Blindheit und Stummheit auf dem Hintergrund seelischer Veränderungen sichtbar zu machen. Exemplarisch möchte ich das anhand der Biografie einer Frau zeigen, die nach zwei Suizidversuchen zu mir in Behandlung kam. Sie lebte völlig von der Welt abgeschlossen, pflegte keine sozialen Kontakte und war von tiefem Misstrauen gegenüber anderen Menschen geprägt. Sie erzählte aus ihrer Kindheit und schilderte mir eine Mutter, die häufig Jähzornattacken hatte, was zu körperlicher Gewalt ihr gegenüber führte. Der Frau war es nicht möglich, Zusammenhänge zwischen ihrem eigenen Verhalten und den Ausbrüchen ihrer Mutter herzustellen. Die Mutter duldete keine Widerrede, sodass sie zunehmend den Kontakt mit der Mutter aufgab, gleichsam das Reden verlernte. Ganz präsent war ihr die Zeit zwischen ihrem vierten Lebensjahr und der Einschulung: Wenn sie spielte oder etwas tat, was der Mutter nicht gefiel, hatte das Schimpftiraden und Drohungen zur Folge. Sie hatte das Gefühl, dass sie eigentlich nichts mehr tun kann, und verlor das Vertrauen in ihr eigenes Handeln. In der Folge versuchte sie sich immer klein und unsichtbar zu machen, ihr Verhalten zu verändern und herauszufinden, was der Mutter Freude bereiten könnte. Daher tat sie viele Dinge gegen ihren eigenen Willen und entwickelte zunehmend das Gefühl, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war, dass sie einen Fehler hatte, den sie nicht erkennen konnte, und dass dies der Grund war, warum die Mutter so mit ihr umging. Dahinter stand Einsicht, die sich zunehmend in ihrem Inneren breitmachte, dass sie selbst schuld daran trug, dass die Mutter so mit ihr umging.
Mit diesem Grundgefühl, dass in ihr ein verborgener, entsetzlicher Fehler ist, den sie eigentlich selbst finden müsste, wuchs sie heran, und dieses Gefühl begleitete sie bis in ihr Erwachsenenleben hinein. Es entstand bei ihr der Eindruck, dass sie nicht nur alles falsch gemacht hatte, sondern dass sie unberechtigterweise auf der Welt war und dass eigentlich jeder, der etwas an ihr auszusetzen hatte und sie kritisierte, im Recht war. Eigentlich war sie auf der Welt nur störend und nutzlos.
Jeder Wille, sich zur Wehr zu setzen und sich selbst zu behaupten, verschwand, und an seine Stelle trat der Wille, sich durch ständiges Entgegenkommen, durch Gefügigkeit und Anpassung das Wohlwollen der anderen zu spüren, um die Angst vor Verurteilung zu vermeiden. Eigenes Wünschen und Wollen gingen völlig verloren. Innerlich entwickelte sich eine immer größere Leere, gepaart mit dem Gefühl von Scham, ohne dass sie benennen konnte, warum dies auftrat. Am Ende stand ein inneres und äußeres Verstummen. Diese Stummheit aus Schuldgefühl und schweren Selbstzweifeln, aus Selbstverachtung und Ohnmacht waren ihre ständigen Begleiter.
Während der Behandlung hörte ich oft Sätze wie: »Ich schäme mich so, dass ich hier bin; ich falle ihnen doch ständig zur Last; ich weiß nicht, worüber ich mit ihnen reden soll; ich habe den Eindruck, dass ich nicht von mir reden kann, weil ich es nicht wert bin, dass sich jemand für mich interessiert«. Mit dieser Stummheit sich selbst gegenüber, begleitet von der eigenen inneren Entwertung, gab es auch eine voranschreitende chronische Blindheit für sich selbst: Das Gefühl, sich selbst nicht mehr sehen zu können und sehen zu wollen, sondern nur so zu leben, dass die Außenwelt zufriedengestellt wird. Die Verschmelzung von Scham und Schuldgefühlen, gepaart mit der inneren Zurückgezogenheit, verdichtete sich zu einem kompletten Unvermögen für eigene Interessen und Wünsche einzutreten. Doch dann kam sie an den Punkt, an dem die psychische Energie erschöpft war, sich der Außenwelt anzupassen. Es machte sich das Empfinden breit, auch die anderen nicht mehr sehen zu können, überhaupt nichts mehr sehen zu wollen, was zu den Suizidversuchen führte. Es ist gut vorstellbar, wie ein Mensch, der das Sprechen von sich selbst verlernt hat, der nicht weiß, welche eigenen Wünsche er hat, dazu gedrängt wird, nicht mehr hinzusehen und sich nur noch auf sich selbst zurückzuziehen oder sich auszulöschen. In dem biblischen Text wird ganz modern dargestellt, dass das Stummsein und die Blindheit nur die Symptome einer Krankheit sind, bei welcher der Mensch sich selbst nicht mehr gehört und den fremden, zerstörenden, dämonischen Mächten ausgeliefert ist, die von ihm Besitz ergriffen haben.
Im weiteren Verlauf der Therapie erzählte mir die Frau, dass ihre Mutter einen Abtreibungsversuch unternommen hatte, der aber misslang. Mit dem Vater lebte sie nur auf Druck ihrer Familie zusammen. So hat die Mutter all ihre Enttäuschungen über ihr eigenes Leben, ihren Hass auf ihre Familie, die sie in die Ehe zwang, und ihren Hass auf ihren Mann, der ihr das Leben, das sie hätte leben wollen, versperrt hatte, auf ihre Tochter übertragen und ihr damit jede Möglichkeit der eigenen Selbstwerdung genommen.
Neben der Erfahrung der eigenen Nichtigkeit und Wertlosigkeit, die aus tiefenpsychologischer Sicht für das Erblinden und Verstummen verantwortlich sind, gibt es aber auch noch eine andere Sichtweise, die uns der biblische Text nahebringt. Vielen Menschen sind der Ansicht, dass das Dasein als Ganzes sinnlos und ohne Ziel ist, was nicht nur das eigene Dasein, sondern auch das Dasein aller Dinge infrage stellt. Für diese Menschen gibt es keine Begründung, warum es etwas gibt und nicht