Seine Geschichte war wie das Bild in dem Gleichnis: »Da fiel ein Same, der an sich gut ist, auf felsigen Grund, schoss gleich auf, aber konnte nicht haften, hatte nie die Möglichkeit, Wurzeln zu schlagen, um in sich ruhig zu werden und Nahrung zu gewinnen aus dem eigenen Standort«. Er war hin- und hergerissen in seinem Leben, auf der Suche nach Anerkennung und Liebe. An Anstrengung, gutem Willen, Initiative und richtigen Entscheidungen hatte es nie gefehlt, aber am Ende scheiterte er doch. Der Mann, der vor mir saß, war ausgelaugt und ausgezehrt, müde und kraftlos. Es war sofort klar, dass es in diesem seelischen Zustand, in dem er sich befand, kein vernünftiges Argument gab, um ihn da herauszuholen. Für einen solchen Menschen ist es nicht möglich zu sehen, dass das Leben auch schön sein kann. Das Einzige, das hilft, ist, ihm zu gestatten, dass er sich krank, müde, ausgezehrt und von Ängsten überflutet fühlt. Er lebte bislang in einem Zustand, in dem er nicht wusste, was er selbst eigentlich will und wer er ist. Er wusste nur, dass er sich und den anderen (insbesondere der Mutter und dem Stiefvater) beweisen wollte, dass er erfolgreich sein kann. Das führte aber dazu, dass er nicht seinen eigenen Vorstellungen gemäß lebte, sondern sich von außen bestimmen ließ. Auch die Erwartungen, die er an sich selbst hatte, waren nicht seine eigenen, sondern die, die ihn seit seiner Kindheit begleiteten.
Er hatte den Glauben, dass er sein Leben wieder in den Griff bekommen, dass es ihm wieder gutgehen könnte, völlig verloren. Es gab für ihn keine Perspektive, das Leben hatte keinen Sinn mehr. Er hatte den Glauben an sich selbst, seine Leistungsfähigkeit und an alles, was für ihn bislang wichtig gewesen war, verloren. Wie oben gesagt, ist gerade in einer solchen Situation jeder Rat von außen, auch wenn er noch so gut gemeint ist, sinnlos und eher kontraproduktiv. Die üblichen Tröstungen haben keinerlei Aussicht auf Erfolg.
Entscheidend ist, alles, was auf das Leben dieses Mannes eingewirkt hatte, aufzugreifen, alle Demütigungen und Zurückweisungen mit ihm noch einmal durchzugehen und ihn die Trauer und Einsamkeit spüren zu lassen. Gerade indem noch einmal verdichtet wird, was dunkel und bedrohlich ist, kann sich ein Lichtstrahl zeigen. Die Umwandlung der grenzenlosen Dunkelheit und Resignation kann nur dadurch erreicht werden, dass der Mensch vertrauensvoll begleitet wird und spürt, dass ein anderer mit ihm diese Dunkelheit aushält. Letztendlich geht es darum, dass derjenige, dem alle Hoffnungen zerbrochen sind, in seinem Inneren und in der Dunkelheit spürt und weiß, was er eigentlich sein könnte und wozu er berufen ist.
Im therapeutischen Geschehen geht es darum, durch die Verzweiflung hindurchzugehen, indem man all die Gründe für diese Verzweiflung aufspürt. Aus der Ablehnung und dem Mangel an Liebe, die dieser Mann erfahren hat, aus allem Negativen also kann er dann etwas für ihn Wertvolles formen und erspüren. Er kann wahrnehmen, dass ihm eine innere Kraft gegeben wurde, trotz der Mängel, die er erlebt hat, durchzuhalten und etwas zu erreichen. Er kann spüren, dass er stolz auf das sein kann, was er unter den Startbedingungen ins Leben erreicht hat. Er kann spüren, was er selbst ist. Das kann ihm keiner mehr nehmen. Aus der Verzweiflung und dem Negativen heraus findet er so zu seinem unverfälschten Wesen Zugang, er kann zur Blüte bringen, was in ihm lebendig ist.
Ein Mensch kann durch das Herabsteigen in den Keller seiner Seele verstehen, dass er aufhören muss, alles von außen her ersticken und überwuchern zu lassen. Er kann spüren, dass es wichtig ist, Konflikte anzugehen und eigene Interessen zu vertreten. Er kann spüren, wie wichtig es ist, Grenzen zu setzen und sich nicht mehr hin- und herschieben zu lassen. Es ist erstaunlich und wunderbar, dass diese tiefenpsychologische Erkenntnis sich schon in dem Gleichnis, das Jesus erzählt, zeigt. Er weist darauf hin, dass wir nur im Spiegel unserer eignen Seele uns selbst sehen lernen. Die Liebe, das Verständnis und die Güte Gottes zeigen sich in unseren Träumen und in unserer Kraft, überleben zu wollen.
Das ist jedoch kein einfacher Schritt. Viele Menschen haben Angst vor ihrer eigenen Tiefe, vor sich selbst, lehnen daher einen therapeutischen Prozess ab und greifen zu Medikamenten. Sie haben schon in ihrer Kindheit gelernt, dass jedes tiefere Gefühl zu vermeiden und zu unterdrücken ist. Das führt häufig dazu, dass sie die Chance nicht ergreifen, sich mit ihrer Dunkelheit auseinanderzusetzen, um aus dieser heraus Ruhe zu finden, zu reifen und erwachsen zu werden. Dennoch: Alles, was ist und wachsen will, braucht Zeit. Es gibt eben Menschen, die in einer Krisensituation Symptome entwickeln, die Zeit aber noch nicht reif ist, dass sie sich mit ihrer Enttäuschung im Inneren und mit ihren negativen Erfahrungen auseinandersetzen. Für viele kommt oft erst nach jahrelangen Symptomen der richtige Zeitpunkt, zu dem es möglich ist, genauer hinzuschauen. Ich habe schon Menschen erlebt, die siebzig Jahre alt werden mussten, um sich einem tiefenpsychologischen Prozess stellen zu können. Auch bei diesen älteren Menschen habe ich erlebt, wie Sehnsüchte und Interessen noch Platz und Raum finden, um sich zu entwickeln. Letztendlich geht es nur darum, das Vertrauen mitzubringen, dass nichts, was in uns lebt, ausgeschlossen werden muss.
Häufig ist es so, dass Menschen große Angst vor ihrer eigenen Freiheit haben. Es ist die Angst vor der eigenen Aggression, dem eigenen Narzissmus, die uns hindern, Dinge genauer zu betrachten. Es ist aber auch die Angst vor dem Einfluss und der Macht anderer Menschen, die uns immer wieder klein und niedrig hält, statt uns zu entwickeln mit den Möglichkeiten, die in uns angelegt sind. Es gibt Ängste, die Zwänge zur Folge haben, zum Beispiel auch in der Gier nach Geld und Erfolg. Aber, um beim Gleichnis zu bleiben: Kein Besitz und kein Erfolg wird uns schützen vor den Disteln, den Dornen und den Stachelgewächsen.
Insofern ist eine tiefenpsychologische Begegnung, die uns mit unserer Dunkelheit in Berührung bringt, nichts, vor dem man sich fürchten müsste. Denn hinter der Begleitung, die wir durch einen anderen Menschen erfahren, dürfen wir auch darauf vertrauen, dass Gott wusste, was er tat, als er uns erschuf. Darum ist es wenig hilfreich, am Ende zu verrechnen, was unser Leben wert ist. Vielmehr gilt: Dass es uns gibt, ist bei Gott unendlich viel, denn aus dem Nichts gerufen, sind wir in die Ewigkeit aufgenommen.
Anselm Grün
Bekenntnisse • Matthäus 16,13–20
Diese Stelle aus dem Matthäusevangelium ist in der Kirchengeschichte sehr kontrovers ausgelegt worden. Im 19. Jahrhundert zog man diese Stelle in der katholischen Kirche zur Begründung des Papsttums heran. Die evangelischen Exegeten haben dem immer widersprochen. Doch heute herrscht zwischen katholischen und evangelischen Exegeten ein großer Konsens. Wichtiger als die Frage, ob mit der Seligpreisung des Petrus der Primat des Papstes gemeint ist oder nicht, ist für mich eine Auslegung, die für unser ganz persönliches Leben als Christen eine Bedeutung hat. Eine Deutung ist für mich nur dann gut, wenn sie eine Bedeutung für mein persönliches Leben hat. Daher möchte ich diese Stelle in diesem Sinn auslegen.
Jesus fragt die Jünger, für wen die Leute ihn, den Menschensohn, halten. Die Antworten, die die Jünger geben, lauten: die einen für Johannes den Täufer, die anderen für Elia, wieder andere für Jeremia. Für mich werden in diesen drei Gestalten Bilder von Jesus sichtbar, die sein Wesen letztlich verfehlen.
Johannes der Täufer ist der typische Asket. Askese und Kampf gehören durchaus zum christlichen Glauben. Doch Jesus ist nicht wie Johannes. Wenn ich Askese absolut setze, wird der Glaube zur Lebensverneinung. Ich darf mir nichts mehr gönnen. Der christliche Weg wird dann zu einem Wettkampf, wer die größten Verzichte leisten kann. Das aber wäre eine Verfälschung des christlichen Weges. Askese ist Einübung in die innere Freiheit. Und als solche gehört sie durchaus zum Glauben. Aber sie darf eben nicht absolut gesetzt werden.
Elija dagegen ist der große Prophet. Jesus wird von den Evangelisten durchaus auch als Prophet gesehen, der den Menschen das Wort Gottes verkündet. Jesus selbst identifiziert sich manchmal mit dem Bild des Propheten, wenn er etwa sagt: »Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat« (Mk 6,4). Oder wenn er von sich selbst sagt: »Ein Prophet darf nirgendwo anders als in Jerusalem umkommen« (Lk 13,33). Doch schaut man sich die Gestalt des Propheten Elija genauer an, werden auch die Schattenseiten des Prophetentums deutlich: Er fühlt sich absolut im Recht und schleudert das Wort Gottes gegen die Menschen. Er tötet sogar alle Baalspriester, weil sie nicht dem rechten Gott opfern. Jesus kennt diese Rechthaberei nicht. Heute verstehen sich manche Christen ebenfalls als Propheten, die nicht auf die Menschen und ihre Sehnsucht zu hören haben, sondern