In scherzhafter Übertreibung dehnte und reckte sie die Glieder. »Lassen Sie uns die letzte Viertelstunde zu einer Promenade durch das Schiff benutzen.«
Gemächlich schlenderten sie das breite Promenadendeck entlang, das sich rechts und links von dem großen Mittelsaal durch die ganze Länge des Schiffes hinzog. Es war nicht unbelebt. Offiziere der mit der ›Sutherland‹ anfliegenden neuen Wachttruppe, Mitglieder der Regierung und ihre Damen. Lord Permbroke mußte hier und dort stehenbleiben, grüßen, ein paar Worte wechseln.
»Immer noch Wolken, Sir Arthur, kein Blick auf den Erdboden möglich?«
»Wir werden ihn gleich zu sehen bekommen, Baronin. Das Schiff steht vor der Landung.«
Das Klirren der Maschinentelegrafen drang durch den Raum. Der Bug der ›Sutherland‹ neigte sich leicht nach unten, und in schrägem Fluge schoß das Schiff abwärts. Der Sonnenschein verschwand, und die trübe Stimmung eines schottischen Nebeltages breitete sich aus. Schon wurden die altersgrauen Mauern von Montgomery-Hall sichtbar. Jetzt noch klein wie ein Spielzeug, doch nun schnell groß und immer größer werdend. Immer langsamer sank das Schiff. Tief und immer tiefer, bis es auf dem Boden des großen Schloßhofes leicht aufsetzte.
Die Pforten des Schiffs öffneten sich, Treppen wurden herangeschoben, die Passagiere verließen das Schiff.
Dort die Truppen, die hierhergebracht wurden, um die alte Wachmannschaft abzulösen. 30 Mann mit ihren Offizieren. Erlesene Mannschaften. Erst vor 24 Stunden waren sie nach einem geheimen Schlüssel aus verschiedenen Truppenteilen herausgezogen und zu einer neuen Wachtmannschaft zusammengestellt worden. Man wollte durch diese Maßnahme jede Möglichkeit ausschließen, daß etwa von irgendeiner interessierten Stelle her bestimmte Personen in die Wachmannschaft hineingeschoben wurden, wollte dadurch jeden Anschlag, jedes möglicherweise geplante Komplott gegen Montgomery-Hall im Keime ersticken.
Die neue Wachmannschaft formierte sich und marschierte unter der Führung ihrer Offiziere zu dem Teil des Schlosses, in dem sich die Räume für die Wache befanden.
Lord Permbroke war Lady Ellen und Jolanthe von Karsküll beim Verlassen des Schiffes behilflich.
Nun standen sie auf dem Schloßhof, gingen zum Portal und traten in die Räume des alten Normannenbaues ein. Lange gewölbte Korridore. Eine mächtige Halle im Erdgeschoß. Größere Fenster nach dem Hofe zu. Kleinere, mehr an Schießscharten als an Fenster erinnernde Öffnungen nach außen hin.
»Man meint, mehr in einer Festung als in einem Schlosse zu sein«, sagte Lady Ellen.
»In der Tat, Ellen«, pflichtete Lord Permbroke bei, »unser verstorbener Freund wählte ja gerade deshalb diesen abgelegenen Bau für seine Versuche. Hier konnte er sich von aller Welt abschließen, mit einfachen Mitteln gegen jeden Angriff verteidigen. Er übernahm unverändert, was die normannischen Baumeister vor 800 Jahren errichtet hatten, und fügte von sich aus noch etwas hinzu, wodurch die alte Burg auch für moderne Mittel völlig unangreifbar wurde.«
»Sie sprachen von den wunderbaren Sicherungen, Sir Arthur?« sagte Jolanthe.
»Ich gestehe, daß ich darauf fast noch neugieriger bin als auf den Apparat selbst. Man erzählt sich Wunderdinge davon.«
»Ich werde Ihnen die Anlage zeigen, Baronin. Nur… es ist eigentlich nichts daran zu sehen. Sicherlich ist Ihnen gar nichts aufgefallen, als wir durch das große Portal hineinkamen.«
»Nein, Sir Arthur, aber vergessen Sie auch nicht, daß ich von der Technik und der Physik absolut nichts verstehe.«
»Auch ein Physiker hätte kaum etwas Auffallendes bemerkt, Baronin. Ein matter, kaum sichtbarer Metallstreifen an jedem der beiden Türpfosten. Wir konnten unangefochten hindurch, weil die Sicherungen abgestellt sind. Wären sie es nicht, so würde in dem Augenblick, in dem ein Mensch sich zwischen den Pfosten befindet, ein tödlicher Funke zwischen diesen überspringen und den Eindringling niederschlagen.«
Jolanthe blieb stehen und strich mit der Rechten über die matt glänzenden Metallstreifen.
»Das ist interessant, Sir Arthur. Aber ich glaube, nicht ganz ungefährlich. Wenn man nun einmal vergißt, eine dieser Sicherungen abzustellen. Ich hörte, daß solche Sicherungsanlagen sich nur allzu leicht gegen den eigenen Besitzer kehren… und zwar um so leichter, je vollkommener sie zu sein scheinen.«
»Ihr Einwurf ist nicht unbegründet, Baronin. Montgomery sah diese Gefahr voraus und begegnete ihr auf eine meisterhafte Weise. Die Ein- und Ausschaltungen der vielen Sicherungsanlagen des Schlosses… es sind mehrere hundert solcher Hochspannungssicherungen… sind in einem einzigen Hebel zusammengefaßt, der sich im Schlafzimmer des Verstorbenen befindet. Mit einer einzigen Handbewegung konnte Montgomery alle diese Sicherungen aus- oder einschalten. Er vermied dadurch die Gefahr, daß etwa die eine oder andere übersehen wurde. Auch in dieser Anlage offenbart sich das technische Genie des toten Erfinders.«
»Dann, Sir Arthur«, fiel Jolanthe von Karsküll dem Lord in die Rede, »wäre es doch für irgendeinen Bewohner des Schlosses ein leichtes, aus dem Gebäude herauszukommen, indem er heimlich den Universalschalthebel umlegt und dadurch sämtliche Sicherungen ausschaltet.«
Lord Permbroke lächelte. »Nein, Baronin, so einfach ist die Sache nicht. Montgomery wußte sich noch besser zu schützen. Die Tür zu seinem Schlafzimmer ist mit unzähligen Nagelköpfen verziert. In einem dieser Köpfe hatte er eine besondere magnetische Sicherung angebracht. In dem siebenten Türnagel der vierten Reihe. Wir hätten das Geheimnis niemals gefunden. Glücklicherweise hatte Montgomery es bei Lebzeiten seinem alten Kammerdiener anvertraut. Erst wenn man einen Magneten an diesen Kopf bringt, wird eine besondere Sperrung des Türschlosses aufgehoben. Erst dann kann man schließen und in das Schlafzimmer hineingelangen.«
»Das ist interessant, Sir Arthur. Aber wenn man dies Geheimnis nicht wüßte, wenn man – es wäre doch vielleicht nach dem Tode des Erfinders das Nächstliegende gewesen – wenn man diese Tür mit Gewalt aufgebrochen hätte, so wäre man doch auch in das Zimmer gekommen.«
»Nein, Baronin, man wäre schon bei dem Versuch, die Tür zu zerstören, von der Hochspannung erschlagen worden. Erst durch diesen unscheinbaren Nagelkopf wird die Sondersicherung der Schlafzimmertür ausgeschaltet.«
Jolanthe von Karsküll biß sich auf die Lippen.
»Ich sehe, Sir Arthur, Elias Montgomery wußte sich wirklich gegen unerwarteten Besuch zu schützen.«
»Er wußte es in der Tat, Baronin. Selbst dann noch, wenn irgend jemand doch in das Schlafzimmer eindrang, wenn er etwa die fast meterstarken Wände durchbrach, war er immer noch nicht am Ziel. Er hätte den Schalthebel immer noch vergebens gesucht. Oh, Montgomery war ein Genie. Er wußte sich zu schützen.«
Während Lord Permbroke seine Erklärungen gab, waren sie weitergegangen.
Ein hoher Raum jetzt. Eichenbalken von mächtigen Abmessungen trugen die Decke. Durch Butzenscheiben fiel das Licht in allen Farben des Regenbogens in das Innere. Lange Tische, mit Hunderten von Apparaten bedeckt, zeugten hier von der Lebensarbeit des toten Schloßherrn.
In der Mitte des Raumes auf einem besonderen Tisch der Apparat. Da stand er, der Wunderkasten, der jetzt die ganze Welt in Aufruhr versetzte. Ein Kasten, wohl sechs Fuß lang, drei Fuß breit und ebenso hoch. Seine Wände wurden von schimmernden Spiegelscheiben gebildet, die an den Kanten durch starke Bronzeleisten zusammengefügt waren. Das geschliffene Glas reflektierte zum Teil die Bilder der Umgebung. Man mußte nahe herantreten, um den Inhalt des Kastens genau zu erkennen. Ein Gewirr von Spulen und Kondensatoren, Schaltern und Maschinen. Völlig rätselhaft für den Laien, unenträtselbar auch bis jetzt für die Gelehrten.
Als Lord Permbroke dicht an den Apparat herantrat, erhob sich ein Greis, der auf einem Schemel regungslos davor gehockt hatte. Seine Züge drückten tiefste Mutlosigkeit aus. Nur langsam glätteten sich die Falten auf seiner Stirn, während er mit Lord Permbroke einen Händedruck wechselte. Und Sir Arthur unterließ jede Frage. Ein Blick auf dieses entmutigte Antlitz bewies ihm zur Genüge, daß auch Professor Syndham mit diesem verzauberten Kasten nicht zu Ende kam, daß alle