Lord Permbroke ließ ihr geraume Zeit, ehe er zum Weitergehen mahnte. »Was sehen Sie an dem unnützen Kasten, Baronin? Wir wollen das alte Schloß besichtigen. Es wird Sie sicherlich mehr interessieren.«
Noch immer stand Jolanthe wie hypnotisiert vor dem Kasten.
»Das also ist der berühmte Apparat, mit dem Montgomery die Atomenergie beherrschte?… um den sich jetzt alle Welt den Kopf zerbricht?«
»Er ist es, Baronin… wenn er es ist. Wir wissen bis heute noch nicht sicher, ob er es ist oder ob Montgomery einen Vexierapparat hinterließ, um die ganze Welt damit zu narren. Ich würde das letztere glauben, wenn nicht der Tod so ganz unvermutet und so plötzlich über Montgomery gekommen wäre.«
»Sie meinen also, Sir Arthur, es ist doch der richtige Apparat, den wir hier vor uns sehen?«
»Ich muß es meinen, Baronin. Aber warum widersteht er dann allen unseren Bemühungen?«
»Warum?… ja, warum?« flüsterte Jolanthe, und mit ihr taten Tausende, ja Hunderttausende in aller Welt die gleiche Frage.
Aus dem Laboratorium schritten sie durch einen hohen Kreuzgang und stiegen die steinerne Wendeltreppe zu den oberen Stockwerken empor. Auch hier alles in altem normannischem Stil. Große Säle, enge Kammern. Endlich eine schwere Eichentüre. Aus starken Bohlen gefügt, mit gewaltigen Bändern aus geschmiedetem Eisen beschlagen, mit Nagelköpfen verziert. Sie war verschlossen. Lord Permbroke hatte den Schlüssel dazu bei sich. Umständlich schob er dieses Meisterstück frühmittelalterlicher Schmiedekunst in die Schlüsselöffnung hinein.
»Sehen Sie, Baronin, durch keine Macht der Welt ließe sich der Schlüssel jetzt drehen. Man würde eher den Bart abbrechen.«
Er zog einen kleinen Magneten aus der Tasche und setzte ihn auf den siebenten Kopf der vierten Reihe. Gleichzeitig drehte er mit der anderen Hand den Schlüssel leicht herum. Die Tür bewegte sich in ihren Angeln und schlug auf.
»Aber so… so geht es.«
Sie standen im Gemach, dem Schlafgemach des toten Erfinders. Bescheiden, fast dürftig die Ausstattung. Ein einfaches eisernes Feldbett, ein bescheidener Waschtisch. Alte wurmzerfressene Eichenschränke. Ein mächtiger alter Kamin. Auf den groben Hausteinquadern der Wände zahlreiche elektrische Leitungen. Jolanthe blickte sich im Gemach um.
»Interessant! In der Tat interessant, Sir Arthur, aber…«
»Aber Sie vermissen den Schalter, von dem wir sprachen?«
Bei diesen Worten näherte sich Lord Permbroke einem in Form eines Armes an der Wand befindlichen Beleuchtungskörpers. Es war eine alte Kunstschmiedearbeit, ein Rankenwerk mit Tannenzapfen.
»Versuchen Sie es, Baronin, diesen untersten Zapfen zu bewegen.«
Jolanthe trat hinzu und bemühte sich vergeblich. Fest und unverrückbar schien auch dieser Zapfen mit dem Schmiedestück verbunden zu sein.
»Das ist unmöglich, Sir Arthur.«
»Aber es wird möglich, Baronin.«
Wieder trat der kleine Magnet in Tätigkeit. Lord Permbroke brachte ihn an den Zapfenstil, und im gleichen Augenblick gab der Zapfen unter Jolanthes Händen nach. Leicht ließ er sich zur Seite biegen. Im gleichen Augenblick ein leises Knarren in der Quaderwand neben dem Bett. Eine der Quadern sprang wie eine Tür nach außen auf, und da in dem Hohlraum in der Wand wurde ein einziger Schalthebel sichtbar.
»Sehen Sie, Baronin, jetzt sind wir am Ziel. Dort ist der Nerv, der alle Sicherungen betätigt. Jetzt steht der Hebel waagerecht, steht von der Wand ab. Legt man ihn nach oben um, dann sind alle Sicherungen in Tätigkeit. Kein lebendiges Wesen kann dann in das Schloß hinein oder aus ihm heraus.«
Jolanthe von Karsküll ließ ihre Blicke zwischen dem Wandarm und dem Schalter hin und her wandern.
»Ich bin eigentlich etwas enttäuscht, Sir Arthur. Ich glaubte, man müßte ein hervorragender Physiker sein, um die Sicherungen bedienen zu können. Nun ist das alles so einfach… das müßte doch jeder Laie auch können.«
»Gewiß, Baronin! Jeder Laie kann es, wenn er das alles weiß, was wir jetzt wissen. Aber zu Lebzeiten Montgomerys wußte es nur der Schloßherr selbst und sein Diener.«
Mit diesen Worten drückte Lord Permbroke gegen die Quader. Leicht drehte sie sich wieder in ihre frühere Stellung zurück. Ein Schloß schnappte. Verschwunden war der Schalter, nur die glatte Wand ohne jedes Merkmal sichtbar.
Beim Verlassen des Zimmers fast das gleiche. Ohne jede Schwierigkeit ließ die Tür sich jetzt schließen. Kein Magnet brauchte dabei in Tätigkeit zu treten.
Die Besichtigung des Schlosses ging ihrem Ende zu. Sie waren auf den Schloßhof hinausgetreten, wo die ›Sutherland‹ lag, als Jolanthe sich auf etwas zu besinnen schien.
»Meine Tasche… ich habe sie im Parlourroom liegen lassen. Einen Augenblick bitte.«
Noch bevor Lord Permbroke ihr seine Dienste anbieten konnte, war sie über die Treppe in das Schiff geeilt. Der Lord benutzte den unfreiwilligen Aufenthalt, um seiner Gattin die altertümlichen Steinbildereien im Schloßhofe zu zeigen. Uralte Steinmetzarbeiten.
Hochrelief in einer naiven und allen Gesetzen der Perspektive Hohn sprechenden Anordnung. Szenen aus der Geschichte jenes sagenhaften Königs Malcolm, der zuerst normannisches Recht und normannische Art in Schottland einführte. Er war noch beim Erklären, als Jolanthe schon zurückkam, die Tasche am Arm. Lord Permbroke warf einen Blick auf die Uhr.
»Es ist bald Zeit zum Abfahren.« Er sah sich nach dem Flugschiff um, auf dem schon die ersten Vorbereitungen zur Fahrt getroffen wurden. Da! Ein Matrose kam taumelnd die Schiffstreppe herab. Schritt schwankend wie ein Betrunkener über den Hof dem Revier der Schloßwache zu. Glasig sein Blick. Wie fiebergerötet seine Haut.
Der Lord winkte einen Offizier heran.
»Was ist mit dem Mann?«
»Ein Fieberanfall, Eure Lordschaft. Wahrscheinlich Malaria. Der Mann war früher Seemann.«
»Hm.«
Lord Permbroke stand einen Augenblick zweifelnd. Dann, als hätte er einen Entschluß gefaßt.
»Entschuldigen die Damen einen Augenblick? Ich will nach dem Mann sehen. Wäre möglich, daß der hierbleiben muß. Es wären dann einige kleine Formalitäten zu erledigen… immerhin ein überzähliger… ein nicht vorgesehener Insasse von Montgomery-Hall.«
Schon riefen die Sirenen der ›Sutherland‹ die Passagiere wieder an Bord. Schon marschierten die abgelösten Wachmannschaften über die Laufbrücken in den Schiffsrumpf, und auch für Lord Permbroke und seine Damen wurde es Zeit, an Bord zu gehen.
Lady Permbroke und Jolanthe von Karsküll standen wartend auf dem Schloßhof. Sir Arthur blieb lange aus.
Jolanthe von Karsküll stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.
»Diese Formalitäten!… Wie überflüssig!«
Da kam der Erwartete zurück.
»Leider ist es nicht möglich, den kranken Matrosen auf der ›Sutherland‹ mitzunehmen. Der Arzt hatte des außerordentlich hohen Fiebers wegen zu starke Bedenken.«
Noch wenige Minuten, und die ›Sutherland‹ wurde von ihren Hubschraubern senkrecht in die Höhe genommen. Im dämmernden Abend blieb Montgomery-Hall tief hinter dem enteilenden Schiff liegen.
Die ›Potomac‹, das große Transatlantikschiff, war auf dem Fluge nach Amerika. Es war ein Sonderflug zu den Niagarafällen anläßlich jenes gewaltigen, von William Jefferson vorgeschlagenen Experimentes, das seit mehreren Wochen alle Welt in Atem hielt. Des Nachmittags um drei Uhr hatte die ›Potomac‹ den Hamburger Hafen verlassen. Nach einer Fahrzeit von genau zwölf Stunden sollte sie fahrplanmäßig am folgenden Tage bei den Fällen landen. Die Zeitdifferenz von sieben Stunden zwischen Europa und Mitteleuropa kam ihr bei dem Westflug zugute.