Doch lassen wir das, kommen wir zum Zweck meines heutigen Besuches zurück. Ich möchte Sie wiederholt bitten, Wierny zu verlassen und weiter im Westen, jenseit des Urals, einen Zufluchtsort zu suchen. Die Ereignisse der letzten Tage haben gezeigt, daß der Aufenthalt in Turkestan mit Gefahren verknüpft ist. Es könnte sein, daß der Kirgisenaufstand vom Ilidreieck aus neu geschürt und gestärkt wird. Die nahe Lage Wiernys zur Grenze dürfte bedenklich sein.«
»Schon wieder den Wanderstab ergreifen?«
Maria sprach es. Ungehört war sie aus dem Haus getreten und stand jetzt fragend vor ihm. Sie war in ein dunkles, hoch hinauf schließendes Hausgewand gekleidet, das ihre schlanke, ebenmäßige Gestalt vortrefflich hervortreten ließ. Eine müde Anmut lag über ihrem bleichen Gesicht, verhaltene Trauer klang aus ihren Worten.
Ein Ruck ging durch Isenbrandts Körper. Als er sie so vor sich stehen sah, hätte er sie in seine Arme nehmen, sie an sich pressen mögen. Das Blut schoß ihm jach in das Gesicht. Mit Gewalt beherrschte er sich, zwang sich zu einem Lächeln.
»Der Wanderstab ist nicht vonnöten, Maria Feodorowna. Mein Flugschiff bringt Sie nach Orenburg.«
… Orenburg … Sein geistiges Auge sah in schnellen Bildern noch einmal die Szenen ihres ersten Zusammentreffens.
»Von Orenburg bringt Sie das Postschiff sicher nach Odessa oder Moskau.«
Witthusen fiel ihm ins Wort: »Nun, dann mag die Reise auch noch ein paar tausend Kilometer weiter gehen. Dann fahren wir weiter nach Deutschland, der Heimat unserer Ahnen. Ich habe noch Guthaben dort auszustehen, die uns einen längeren Aufenthalt gestatten. Einmal wird ja doch der Tag kommen, wo hier wieder Ruhe und Frieden herrschen, wo wir ungefährdet zurückkehren werden.«
»Er wird kommen … bald!«
»Sie sagen das mit solcher Zuversicht, Herr Isenbrandt?«
»Bald … bald kommt der Tag!«
Georg Isenbrandt sagte es lächelnd. Aber es war ein rätselhaftes Lächeln, das nur den Mund bewegte. In den Augen darüber stand etwas anderes, grau, eiskalt, unbewegt.
Er wandte sich zu Maria und reichte ihr die Hand.
»So sei es dann heut ein Abschied für Ihre Reise. Eine Gebirgstour zu unseren Schmelzstellen hält mich eine Zeitlang von hier fern. Ich werde, bevor Sie Wierny verlassen, nicht zurückkehren können. Leben Sie wohl, Maria Feodorowna. Wir sehen uns bald wieder … bald.«
Einen kurzen Moment ruhten ihre Blicke ineinander, ihre Finger umschlossen sich zu festem Druck. Dann war er hinausgeschritten.
*
Vor einem mit Plänen bedeckten Tisch saß General Bülow, neben ihm der russische Oberst Popoff. Wie zwei Schachspieler bewegten sie kleine, bunte Nadelfähnchen auf den Karten hin und her. Ihr lebhafter Disput bewies, daß sie sich über die endgültige Stellung der Fähnchen keineswegs einig waren.
Seitdem die Lage an der chinesischen Grenze sich zuzuspitzen begann, hatte das Hauptquartier in Petersburg den Obersten mit einigen anderen Offizieren dem Generalstabe der E. S. C. Truppen attachiert. Für den Kriegsfall unterstanden die militärischen Streitkräfte der E. S. C. dem vereinigten europäischen Oberkommando.
Der früher so lange Zeit hindurch als Ideologie abgetane Gedanke der Vereinigten Staaten von Europa war unter dem Druck der Weltgeschehnisse wenigstens zu einem Teil verwirklicht worden. Zwar war kein Staatsgebilde im Sinne der amerikanischen Union zustande gekommen. Aber die Solidarität der europäischen Völker fand bei voller Wahrung der nationalen Selbständigkeiten und Eigenarten wenigstens dadurch Ausdruck, daß bei Fragen der großen Weltpolitik nicht jeder einzelne kleine Staat, sondern Europa als geschlossenes Ganzes auftrat und handelte.
Hinter den Kulissen war freilich ein steter Kampf um die Stellung des primus inter pares. Rußland glaubte in erster Linie Anspruch darauf zu haben. Dabei kam ihm zustatten, daß der Schwerpunkt der militärischen Angelegenheiten in Petersburg lag, da Rußland mit Rücksicht auf sein großes Gebiet und dessen historisch providentielle Lage gegen Osten die numerisch größte Heeresmacht unterhielt.
Schon unter dem Kommando des Generals Effingham war das Verhältnis zum Petersburger Hauptquartier nicht reibungslos gewesen. Der temperamentvolle Bülow war fast ständig auf Kriegsfuß mit dem Oberkommando. Dessen Anordnungen erfolgten stets unter dem Gesichtspunkt, unbedingt die sibirischen Grenzen zu schützen, während Bülow in erster Linie darauf bedacht war, die turkestanische Grenze zu sichern.
Für Rußland waren die gewaltigen Gruben- und Industrieanlagen im Gebirgsstock des Altai von größter Wichtigkeit. Ihre Vernichtung durch etwa plötzlich vorstoßende Luftstreitkräfte der Gelben war daher mit allen Mitteln zu verhindern. Die starken Kriegsgeschwader Rußlands waren deshalb nach den Anordnungen des Petersburger Oberkommandos ausschließlich zur Sicherung der sibirischen Südgrenze angesetzt und nur die schwächeren Geschwader der anderen europäischen Staaten zur Verteidigung der turkestanischen Grenzen bestimmt.
Gegen diese Kräfteverteilung kämpfte Bülow schon seit langem. Immer wieder versuchte er es durchzusetzen, daß die Hauptkräfte auf die turkestanische Linie konzentriert wurden.
Die Gebirgszüge des Thian-Schan, Alatau und Tarbagatai boten an sich eine gewaltige, kaum überschreitbare Schutzmauer. Jedoch nur so lange, als es gelang, die drei Durchgangspforten abzuriegeln. Der Übergang von Kaschgarien nach Ferghana war verhältnismäßig leicht durch Sprengung der Kunstbauten an der Gebirgsbahn Kaschgar–Osch zu sperren. Viel größere Schwierigkeiten bot die dsungarische Pforte, jenes Tor, durch das sich schon einmal im Mittelalter die mongolischen Schwärme über Europa ergossen hatten. Der dritte gefährliche Punkt aber blieb die chinesische Angriffsbastion, das Ilidreieck.
Ein großartig angelegtes Bahnnetz, das von Chami aus strahlenförmig zur Grenze führte, gab hier den Gelben Gelegenheit, ihren Nachschub schnellstens durch die offenen Pässe zu leiten.
Der Kirgisenaufstand im Siedlungsgebiete hatte Europa notgedrungen den Anlaß gegeben, seine Streitkräfte im Osten zu verstärken. Während die russischen Abteilungen in Sibirien in volle Bereitschaft gebracht wurden, sammelten sich jenseits des Urals Teile der vereinigten westeuropäischen Heere.
Aber die immer noch divergierenden Einflüsse der verschiedenen europäischen Kabinette ließen gründliche und umfassende Maßnahmen, wie die Lage sie erfordert hätte, nicht zu. Ein überraschender Angriff von chinesischer Seite nach Westen hin hätte mit den vorhandenen Mitteln nicht lange aufgehalten werden können. Bülow verlangte daher immer wieder, daß wenigstens das Gros der russischen Luftflotte zur Verteidigung der turkestanischen Grenze angesetzt würde.
Jetzt, nach einem letzten langen Kampf mit dem Obersten Popoff sah er das Vergebliche seiner Bemühungen ein.
»Meine Meinung von Ihnen, Herr Oberst, ist viel zu hoch, als daß ich annehmen könnte, Sie billigten die Pläne des Hauptquartiers. Ihre Gegenargumente trugen so wenig den Stempel der Überzeugung, daß es eines besseren Beweises für die Richtigkeit meiner Ansicht nicht bedarf. Wenn nicht in kurzer Zeit erhebliche Verstärkungen aus Westeuropa ankommen, stehe ich hier auf einem verlorenen Posten. Gnade Gott den Siedlern und ihrem Land!«
»Sie sehen zu schwarz, Herr General«, erwiderte der Oberst, indem er seine Verlegenheit nur schlecht verbarg. »Ist es doch noch ganz ungewiß, ob und wann die Gewitterwolke zur Entladung kommt. Übrigens sind, wie mir vor kurzem gemeldet wurde, starke deutsche Truppenmassen vom Ural her im Anfliegen. Darunter viel Spezialtruppen für den Gebirgskrieg.«
»Natürlich! Deutsche Soldaten allzeit vorneweg!« brummte Bülow vor sich hin.
»Sichern Sie hauptsächlich das Ilital, Herr General. Für das Irtyschtal können Sie im Falle der Not auf russische