Sein Adjutant trat ein und überbrachte ihm eine Karte. »Georg Isenbrandt« las er. Ging hinaus, um ihn zu empfangen.
Der streckte ihm die Hand entgegen und begrüßte ihn.
»Immer noch die gefurchte Stirn, Herr General?«
»Man verliert die Lust, Herr Isenbrandt, wenn man immer wieder gegen Unvernunft und Eigennutz anrennt.«
»Kommen Sie mit mir, Herr General! Zu einem kleinen Gang ins Freie. Vielleicht sehen Sie danach etwas freundlicher aus.«
»Gern, Herr Isenbrandt. Trotz der sommerlichen Wärme kann es mir draußen auch kaum heißer werden als hier drinnen über der Karte.«
Sie verließen die Stadt und schlugen den Weg zu einer kleinen Anhöhe ein, von der man nach allen Seiten einen freien Blick hatte. Weithin sichtbar dehnte sich die in voller Frühlingspracht stehende Landschaft vor ihnen aus. Nicht umsonst galt das Siebenstromland als die Riviera Westsibiriens. Lange ruhten die Blicke der beiden auf dem gottgesegneten Flecken Erde da vor ihnen.
»Wieder war mein Kampf umsonst, Herr Isenbrandt, dieses Paradies vor dem Untergang zu bewahren. Der Russe will keine Vernunft annehmen. Solange es geht, werde ich es zu verteidigen suchen. Aber ich weiß bestimmt, daß ich eines Tages das ganze Gebiet bis zum See hin räumen muß. Bei Telek will ich den Gelben ein Thermopylen errichten. Denn ich glaube nicht, daß ich es länger als eine Woche halten kann. Ist dann nicht genügend europäische Hilfe da, dann werden die gelben Horden über die Leichen der Verteidiger hinwegstürmen. Die Bewohner müßten schon jetzt zur Räumung veranlaßt werden. Man möchte verzweifeln, wenn man daran denkt, daß die russischen Luftstreitkräfte uns das alles ersparen könnten. Vermögen Sie nicht noch einen letzten Schritt zu tun?«
Er blickte auf und sah, daß Isenbrandt ihm kaum zugehört haben konnte. Dessen Auge hing wie weltverloren an den fernen grauen Kämmen des Gebirges. Minuten verstrichen. Dann fielen die Worte von Isenbrandts Lippen:
»Nein, Herr General! Nein! Nichts wird von dem geschehen, was Sie befürchten!«
»Sie sagen? … Herr Isenbrandt! … Was? … Was sollte es verhindern? Haben Sie andere, bessere Nachrichten aus dem Hauptquartier als ich?«
Isenbrandt schüttelte den Kopf.
»Nein, Herr General! Mit eigener Kraft, ohne Hilfe der andern werden wir das Land schützen und den Feind abwehren.«
Georg Isenbrandt sprach nicht weiter, als müsse er sich besinnen. Den General drängte es zu fragen. Aber ein Blick auf die Züge des Ingenieurs ließ die Frage verstummen. Da begann dieser wieder zu sprechen. Fast befehlsmäßig klangen seine Worte.
»Sie werden, Herr General, alles, was an schnellen Flugzeugen zu Ihrer Verfügung steht, ohne Rücksicht auf die Ladefähigkeit hier in Wierny konzentrieren und zu kleinen Geschwadern zusammenstellen. An dem Tage, an dem es gilt … ich werde ihn bestimmen … werden Sie von einem Orenburger Schiff der Kompagnie die Ladungen für diese Geschwader empfangen. Die Geschwader werden die Grenze überfliegen. Jedes Geschwader bekommt vor dem Abflug sein bestimmtes Ziel … und das Ziel wird sein … Wasser … ob See … ob Fluß … Wasser überall dort, wo gelbe Streitkräfte in größeren Mengen marschieren oder versammelt sind …«
»Wasser? … Wollen Sie dampfen? … Dynothermdampf?«
Isenbrandt überhörte die Frage.
»Kämpfe sind nur anzunehmen, wenn es zur Erreichung des Zieles unvermeidlich ist.«
»Das dürften nicht viele sein, die gegen die Übermacht ihr Ziel erreichen.«
»Ich rechne zehn Prozent«, kam es kalt von den Lippen Isenbrandts. »Das wird genügen.«
»Und dann? … Was wird dann geschehen?« drängte der General, indem er an Isenbrandt herantrat.
»Es wird geschehen …«
Einen Augenblick stand Georg Isenbrandt wieder wie geistesabwesend. Dann neigte er seinen Mund zu dem Ohr des Generals und sprach zu ihm … flüsternd, als fürchte er, der Wind könne die Laute an menschliche Ohren tragen.
Und während er sprach, trat ein Grauen in die Augen des Generals. Sein Fuß zuckte, als wolle er zurückweichen vor diesem Manne … diesem Unheimlichen. Sein Herz schlug, wie es in der schwersten Schlacht nie geschlagen. Er fühlte, wie ein Zittern von seinen Füßen nach oben stieg, wie seine Knie wankten.
Sein Auge starrte auf die frühlingsprangende Landschaft, als sähe er die fürchterlichen Bilder der Vernichtung, des Todes … des weißen Todes … und dann war es still an seinem Ohr.
Mit Gewalt raffte er sich zusammen. War das ein Mensch, der zu ihm gesprochen? … War es ein Gott? … Ein Teufel? …
Er warf einen schrägen Blick hinüber zu dem anderen. Der stand starr. Wie aus Marmor gehauen die bleichen, kantigen Züge. Die Augen regungslos in die Ferne gerichtet. Die schmalen Lippen fest zusammengepreßt.
»Es wird geschehen, wie Sie es befehlen«, kam es da von den Lippen des Generals.
»Noch heute! Sofort! Lassen Sie die Befehle hinausgehen! Kommen Sie!«
Sie schritten der Stadt zu. Erst im Gehen gewann der General seine alte Ruhe wieder. Was ihm im ersten Augenblick so unfaßbar, so furchtbar erschien, das und seine Folgen hatte sein Geist jetzt voll erfaßt. Sein Schritt wurde schneller, je näher sie der Stadt kamen. Jetzt drängte es ihn, das befohlene Werk zu beginnen.
»Ja, Herr Isenbrandt, jetzt kann ich ja unbesorgt die Kräfte hier am Ili verstärken, um endlich dem Bandenwesen ein Ende zu machen. Die Kirgisen wechseln hin und her, als ob es keine Grenze gäbe. Das soll jetzt aufhören.«
»Sie können das unbesorgt tun … Untersuchen Sie die Gefangenen recht genau! Stellen Sie fest, wieviel reguläre chinesische Truppen unter diesen irregulären Banden sind. Ich fliege in einer Stunde nach Orenburg … das heißt offiziell. Ihre Telegramme erreichen mich unter meiner alten Geheimadresse in Berlin.«
*
»Der Kaiser … der Sohn des Himmels … tot.«
Um die Mittagstunde war es dem chinesischen Volke kundgegeben worden. Bis in die entferntesten Teile des Landes hatte der Telegraph die Nachricht verbreitet. Ein schwüles Zucken war durch die Glieder des Riesenreiches gegangen. Und während noch die Herzen der Millionen unter dem Eindruck der Ereignisse standen, kam die zweite Botschaft:
»Schanti, Toghon-Khan, der Herzog von Dobraja, ist Regent.«
Da regte es sich stärker, lauter im Lande. Veraschte Glut wollte sich wieder entfachen. Gefesselte Hände zerrten an ihren Banden. Gefesselte Zungen wollten sprechen. Und dann war es wieder still wie am Tage zuvor.
In der Nacht, die dazwischen lag, hatte die Faust des Schanti schon zugegriffen. Was gegen ihn war, befand sich in den Händen seiner Häscher. Die Stimmen der führerlosen Gefolgschaft wurden schwächer, und dann verstummte alles vor der Wucht der neuen Losung:
»Krieg den Europäern!«
Wie ein Steppenfeuer lief es durch die weiten Ebenen des Reiches und entflammte alle Geister.
Wer hatte die Parole ausgegeben? Niemand wußte es. Die neue Regierung schwieg. Schwieg auch, als die Vertreter der fremden Mächte sie interpellierten.
Und dann schallte es weiter und fand sein Echo auf der ganzen Erde … Krieg!?
Es war um die sechste Morgenstunde desselben Tages. Toghon-Khan saß im großen Beratungszimmer des Palastes. Die fensterlosen Wände waren bedeckt mit großen und kleinen Karten. Die langen, niederen Tische waren verborgen unter den Stößen von Papieren und Plänen.
Die kleine Gestalt des Regenten verschwand fast in dem großen Sessel, in dem sie zusammengesunken lag. Er schien zu schlafen. Die Augen waren geschlossen, die Lippen fest zusammengepreßt. Die ganze Nacht hatte er allein in dem Raume zugebracht. Ruhelos war er von einer Karte zur anderen geschritten,