Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe). Jean Jacques Rousseau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jean Jacques Rousseau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837929
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Arbeiten anderer Art. Sonntags versammeln sich alle Leute aus dem Hause, und auch die Nachbarn mit ihnen, Männer und Frauen ohne Unterschied, nach dem Gottesdienste in einem Saale des Erdgeschosses, wo sie Feuer, Wein, Obst, Backwerk und eine Geige finden, nach der sie tanzen. Frau von Wolmar verfehlt nie, sich dabei wenigstens einige Augenblicke zu zeigen, um durch ihre Gegenwart Ordnung und Anstand aufrecht zu erhalten, und nicht selten tanzt sie selbst, wenn auch mit ihren eigenen Leuten. Diese Gewohnheit schien mir, als ich davon hörte, zuerst mit der Strenge der protestantischen Sitten nicht recht vereinbar. Ich sagte es Julien, und was sie mir entgegnete, war etwa Folgendes:

      Die reine Moral ist so reich an ernsten Pflichten, daß, wenn man sie noch mit gleichgültigen Formen überlädt, dies fast immer nur auf Kosten des Wesentlichen geschieht. Es heißt, daß es wirklich bei den meisten Mönchen so sei, daß dieselben, tausend unnützen Regeln unterworfen, von Ehre und Tugend gewöhnlich nichts wissen. Dieser Fehler ist bei uns Protestanten weniger herrschend, aber wir sind doch auch nicht ganz frei davon. Unsere Kirchendiener, die allerdings in Einsicht allen Arten von Priestern ebenso überlegen sind, als unsere Religion in Heiligkeit allen übrigen, haben doch noch manche Grundsätze, die mehr auf Vorurtheil, als auf Vernunft gegründet scheinen. So z. B. daß sie Tanz und gesellige Lustbarkeiten tadeln; als ob Tanzen etwas Schlimmeres wäre, als Singen, als ob jede dieser Ergötzlichkeiten nicht gleichermaßen aus einem natürlichen Triebe herstammte, und als ob es eine Sünde wäre, sich in Gemeinschaft ein unschuldiges und anständiges Vergnügen zu machen. Ich für mein Theil glaube vielmehr, daß in jedem Falle, wenn beide Geschlechter zusammenkommen, eine öffentliche Unterhaltung unschuldiger ausfällt, und zwar eben deswegen, weil ste öffentlich ist, während die löblichste Beschäftigung verdächtig wird, wenn sie unter vier Augen stattfindet. Mann und Frau sind für einander bestimmt; es ist der Zweck der Natur, daß sie ehelich vereinigt seien. Jede falsche Religion streitet wider die Natur; die unsrige allein, die sich ihr anschließt und.sie läutert, giebt sich dadurch als eine göttliche und dem Wesen des Menschen entsprechende Anstalt zu erkennen [Rousseau verkennt hier wie überall das Wesen des Christenthums, welches die Natur selbst als das Sündhafte betrachtet und von dem Menschen fordert, daß er sich von Ihr losreiße und sein ganzes Trachten auf eine ideale Welt, auf den Himmel, richte. D. U.]. Sie muß also in Betreff der Ehe zu den Verwickelungen, welche die bürgerliche Ordnung herbeiführt, nicht noch neue Schwierigkeiten hinzufügen, welche das Evangelium nicht vorschreibt, und welche dem Geiste des Christenthums entgegen sind. Man sage mir doch, wo junge, heiratsfähige Personen Gelegenheit finden sollen, Neigung zu einander zu fassen, und sich mit mehr Schicklichkeit und Vorsicht zu sehen, als in einer Versammlung, wo die Augen aller Welt, beständig auf sie gerichtet, sie zwingen, mit der größten Sorgfalt über sich zu wachen. Wie kann Gott beleidigt sein durch eine angenehme und gesunde Leibesübung, welche der Lebhaftigkeit junger Personen zusagt, welche darin besteht, daß sie sich einander mit Anmuth und Zierlichkeit zeigen, und bei welcher, der Zuschauer wegen, eine gemessene Haltung beobachtet wird, aus der Niemand herauszugehen wagt? Kann man sich ein schicklicheres Mittel denken, Niemanden zu hintergehen, wenigstens was das Aeußere betrifft, und sich mit den Vorzügen und Fehlern, die man haben mag, den Personen zu zeigen, denen daran gelegen ist, uns recht zu kennen, ehe sie sich verpflichten, uns zu lieben? Macht es die Pflicht, sich gegenseitig zu lieben, nicht zur Pflicht, daß man sich zu gefallen suche? Und ist es nicht für zwei tugendhafte und christliche Personen, die daran denken, sich mit einander zu verbinden, eine würdige Aufgabe, so ihre Herzen zu der gegenseitigen Liebe, die Gott ihnen auflegt, vorzubereiten?

      Was ist die Folge, wenn Alles beständig unter der Zuchtruthe gehalten, wenn die unschuldigste Fröhlichkeit wie ein Verbrechen bestraft wird, wenn die jungen Leute beiderlei Geschlechts sich nie öffentlich versammeln dürfen, und ein Geistlicher, in übelberechneter Strenge, nichts im Namen Gottes zu predigen weiß, als knechtischen Zwang, Trübsinn und Langeweile? Man entzieht sich auf Schleichwegen einer Tyrannei, die unerträglich ist, weil sie wider Natur und Vernunft streitet: die erlaubten Vergnügungen, die man einer munteren, ausgelassenen Jugend versagt, ersetzt sie sich durch gefährlichere; listig veranstaltete Zusammenkünfte unter vier Augen treten an die Stelle der öffentlichen Vereinigungen; dadurch, daß man sich versteckt, als hätte man Strafbares vor, geräth man in Versuchung, Strafbares zu begehen. Die unschuldige Freude jauchzt sich gern im hellen Lichte des Tages aus, das Laster aber liebt das Dunkel, und niemals haben Unschuld und Heimlichkeit lange bei einander gewohnt. Mein theurer Freund, sagte sie zu mir, indem sie mir die Hand drückte, gleich als wollte sie mir ihren Reumuth mittheilen und in mein Herz die Lauterkeit des ihrigen überströmen: wer könnte besser als wir die ganze Wichtigkeit dieses Grundsatzes fühlen? Wie viel Schmerzen und Leiden, wie viel Gewissensbisse und Thränen würden wir uns so viele Jahre hindurch erspart haben, wenn wir bei der Tugendliebe, die uns Beide stets beseelte, die Gefahren früher hätten voraussehen können, welche der Tugend drohen, wenn man viel mit einander allein ist!

      Noch einmal, fuhr Frau von Wolmar mit ruhigerem Tone fort, nicht in großen Versammlungen, wo uns alle Welt sieht und hört, sondern in einsamer Zusammenkunft, wo die Heimlichkeit und Zwanglosigleit herrscht, kommt die Sittlichkeit in Gefahr. Dieser Erfahrung zufolge, habe ich es gern, daß meine Leute beiderlei Geschlechts, wenn sie gesellig zusammenkommen, alle mit dabei seien. Ich erlaube auch gern, daß sie aus der Nachbarschaft solche junge Leute dazu einladen, deren Umgang nicht geeignet ist, ihnen zu schaden, und ich höre mit großer Freude, daß es Brauch geworden ist, wenn man einen unserer jungen Nachbarn wegen seines guten Wandels rühmen will, blos zu sagen: er darf zu Herrn von Wolmar kommen. Wir haben hierbei noch etwas Anderes im Auge. Die Mannsleute in unserem Dienste sind sämmtlich Junggesellen, und unter den Frauenzimmern ist die Wärterin unserer Kinder noch zu verheiraten. Es wäre nun unbillig, wenn die Abgeschlossenheit, in welcher sie beiderseits hier leben ihnen die Gelegenheit, anständig unterzukommen, raubte. Wir suchen also durch jene kleinen Gesellschaften ihnen eine solche Gelegenheit unter unsern Augen zu verschaffen, um ihnen zu einer guten Wahl behülflich zu sein, und indem wir so daran arbeiten, glückliche Hausstände zu begründen, vermehren wir das Glück des unsrigen.

      Es wäre noch übrig, mich selbst zu rechtfertigen, daß ich mit diesen guten Leuten tanze: aber ich will mich lieber wegen dieses Punktes stillschweigend verurtheilen lassen, und gestehe offen, daß ich es hauptsächlich deshalb thue, weil es mir Vergnügen macht. Sie wissen, daß ich immer so leidenschaftlich gern getanzt habe, als meine Cousine: aber seit dem Verluste meiner Mutter, verzichtete ich für immer auf den Besuch von Bällen und allen großen Gesellschaften. Ich habe mir Wort gehalten, selbst an meinem Hochzeittage, und werde es ferner thun, denn ich glaube nicht, daß ich dagegen verstoße, wenn ich bei mir zu Hause manchmal mit meinen Gästen und mit meinen Leuten tanze. Es ist dies eine Bewegung, die bei der sitzenden Lebensart, zu welcher man hier im Winter gezwungen ist, meiner Gesundheit dient. Es ist eine unschuldige Belustigung, denn wenn ich recht getanzt habe, macht mir mein Herz keinen Vorwurf. Es macht auch Herrn von Wolmar Vergnügen; ich habe dabei keine andere Koketterie, als ihm zugefallen. Es geschieht meinetwegen, daß er an den Ort kommt, wo getanzt wird; seine Leute finden sich durch die Gegenwart ihres Herrn geschmeichelt, und auch mich unter sich zu sehen macht ihnen sichtlich Freude. Endlich noch finde ich. daß diese unbedeutende Vertraulichkeit ein herzliches und freundliches Verhältniß gründet, das uns dem ursprünglichen Zustande menschlicher Gleichheit ein wenig annähert, indem es die Erniedrigung des Gehorchens und die Härte des Befehlens etwas ausgleicht.

      Dies, Milord, sagte mir Julie in Betreff des Tanzes, und ich bewunderte, wie bei so viel Herablassung so viel Subordination herrschen konnte, wie sie und ihr Mann sich so oft unter ihre Bedienten mischen und sich ihnen gleichstellen konnten, ohne daß diese sich versucht fänden, sie beim Worte zu halten und ihrerseits sich ihnen gleichzustellen. Ich glaube nicht, daß es in Asien Herrscher giebt, die in ihren Palästen mit mehr Ehrfurcht bedient werden, als diese gute Herrschaft in ihrem Hause. Ich kann mir nichts Wirksameres denken, als ihre Befehle, und keine geschwindere Vollziehung, als denselben zu Theil wird: sie bitten, und man fliegt, sie entschuldigen, und man fühlt sein Unrecht. Ich habe nie deutlicher eingesehen, wie wenig die Kraft dessen, was man sagt, von den Worten abhängt, deren man sich bedient.

      Dies hat mich noch auf eine andere Betrachtung über die falsche Würde der Herrschaften geführt, nämlich, daß es weniger ihre Vertraulichkeit ist, als ihre Fehler, was ihnen im eigenen Hause Verachtung zuzieht, und daß man, wenn die Bedienten unverschämt