Pächter der Zeit. Thomas Flanagan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Flanagan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711483978
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eine Geschichte, die die Sommerfrischler, die aus der Ferne herbeiströmen, aus England und vom Kontinent, niemals erraten können. Der Besucher braucht nicht zu wissen, daß die Kriege Elizabeths und Cromwells, die Desmond-Rebellion und ihr entsetzliches Nachspiel und die Tage des großen Hungers diesen Teil Kerrys verheert haben, und die Tage des großen Hungers brachten eine Verzweiflung mit sich, an die sich alle, die noch leben, sehr gut erinnern.

      Ich selber bin nur selten nach Killarney hinabgeritten, ohne über all das nachzudenken, feine, wohltönende Überlegungen, Phrasen, die sich in Gedanken zur Hälfte von selber bilden, berührt von der schattenhaften, würzigen Melancholie der Vergangenheit.

      Aber die Stadt selber brachte mich wieder in die Gegenwart zurück, das war unvermeidlich, denn nichts, was wir in Kilpeder gehört hatten, hatte uns darauf vorbereitet.

      Die Straßen wimmelten nur so von Soldaten, jedenfalls kam es meinen ungeschulten Augen so vor, und egal, wohin man sah, überall fiel der Blick auf ihre scharlachroten Röcke. Sie gingen durch die Straßen, standen in Gruppen vor den Kasernen und dem Gericht, und sie standen sogar auf den Stufen der Kathedrale. Wie wir später erfuhren, hatten sie ihre Zelte in den Feldern auf der anderen Seite der Stadt aufgeschlagen, eine Hälfte von ihnen machte in den jenseits gelegenen Hügeln noch immer Jagd auf O’Connor und seine Männer, die andere Hälfte hatte den Nachmittag frei bekommen, um sich in Killarney zu amüsieren. Während Bob und ich uns noch umschauten, kamen vier von ihnen aus der Schenke gegenüber, sie hatten ihre Käppis zurückgeschoben und ihre Kragen gelockert. Sie wirkten harmlos genug auf uns, angetrunken, aber keinesfalls aggressiv.

      Aber für Bob und mich war es ein ungewohnter Anblick, und wir zogen uns von der Straße zurück und lehnten uns an die Fenster eines kleinen Hökerladens. Von der Kathedrale her kam ein ganzes Regiment von ihnen herangeschlendert, so kam es uns wenigstens vor, mit Lärm und Gebrüll, und die vier, die eben aus der Schenke gekommen waren, starrten sie genauso an wie wir selber. »Tom«, rief einer von ihnen einem Kameraden zu, den er erkannt hatte, »bist du mit den Jungs im Abendgottesdienst gewesen? Hier drin hättest du’s aber besser gehabt!« Er machte eine Kopfbewegung zur Kneipe hinter ihm, und seine Mütze reflektierte ein Funkeln der schrägstehenden Sonne. Er hatte kurzgeschorene sandfarbene Haare, er war nicht mehr jung, vielleicht dreißig, und wies die beiden breiten Streifen eines Corporals auf.

      »Gnädiger Gott«, sagte ich, »die gesamte britische Armee ist nach Killarney verlegt worden.«

      »Die brutal mißhandelte Bevölkerung duckt sich in ihrem Entsetzen«, sagte Bob und nickte zu drei Mädchen hinüber, die an der Ecke gegenüber so dicht beieinander standen, daß ihre von Schals verhüllten Köpfe einander fast berührten. Alle drei kicherten. Die größte war auch die kühnste. Sie hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere berührte die Kante ihres Schals. Als sie den Soldaten entgegenblickte, sagte sie etwas, was die beiden anderen erneut in Gekicher ausbrechen ließ. Sie hatte große, dunkle Augen und hohe Wangenknochen. Ein Streifen Haare, der unter dem Schal hervorlugte, war schwarz.

      »Die Eltern dieser Mädels denken wohl kaum an ihre Verantwortung«, sagte ich. Die Kleinste von ihnen tanzte geradezu vor Aufregung, ihre Füße bewegten sich nach einem Muster.

      Bob grinste sie an, seine Augen hingen an dem großen, schwarzhaarigen Mädchen. »Die britische Armee wird vielleicht ein oder zwei Andenken hinterlassen, wenn niemand aufpaßt. Diese Mädels sollten von einem Priester von der Kathedrale nach Hause geprügelt werden.« Aber seinee Worte waren härter als sein Blick. Einen Moment lang trafen sich die Blicke der beiden, aber sie wandte ihren Kopf wieder ab. Die jungen Männer Irlands hatten an jenem Tag in den Straßen von Killarney keine Chancen.

      Um ehrlich zu sein, war die Keuschheit Kerrys die geringste meiner Sorgen. Die britischen Soldaten, die sich in den Straßen von Killarney drängten oder die sich in meinen Augen dort wenigstens zu drängen schienen, waren für den Moment harmlos genug, und viele unter ihnen waren zweifellos selber auch Iren, aber trotzdem war die Bedeutung ihrer Anwesenheit nicht mißzuverstehen. Das sah ich einem Jungen an, der einen Moment lang allein dastand, vor der Schenke, ganz unbesorgt, der seine Daumen in seinem weißen Gürtel verhakt hatte, der nicht so recht wußte, wohin er nun gehen sollte. Er war ein Gemeiner Soldat, seine Ärmel zeigten keine breiten Pfeile, ein hagerer, hungrig aussehender Bursche mit ausgeprägtem Adamsapfel. Er blickte die Straße hinauf und hinab, sein Blick erfaßte uns beide und ruhte einen Moment auf uns. Er lächelte durchaus nicht, die Winkel seines langen, schmalen Mundes zogen sich nach unten.

      »Das sind noch lange nicht alle«, sagte Bob. »Die Eganbrüder haben von Schotten gesprochen, von Hochländern mit roten Schenkeln.«

      »Aber wie um Himmels willen sind sie hierher gekommen?« fragte ich. »Wie konnten sie von Cork hierher kommen, ohne die Straße durch Kilpeder zu nehmen?«

      »Die britische Armee ist überall und nirgends«, sagte Bob. »Wie der Heilige Geist oder die Peripherie des Kreises, was auch immer. Wir sollten uns erkundigen.«

      Wir machten uns auf den Weg durch die Straße voller roter Röcke. In dieser Stadt herrschte fast Ferienstimmung, und wenn die roten Röcke dafür verantwortlich waren, dann konnte auch nicht behauptet werden, daß die Leute vom Lande sie mit bösem Auge musterten. Am Bahnhof öffnete sich der große Platz der Stadt. Es gab einen Markt mit Läden und Schenken und nicht weniger als vier Hotels. Etwas weiter entfernt, so angelegt, daß seine gepflegten Rasenflächen eine Ecke des Bahnhofsgebäudes berührten, lag das große Eisenbahnhotel, zu dem die Sommerfrischler strömten. Auch jetzt schien es überfüllt, obwohl keine Saison war. Broughams, Landauer und Gigs standen auf der geschwungenen Auffahrt, und neben ihnen spazierten Gentlemen und Ladies hin und her und unterhielten sich, wobei die langen Kleider der Damen über den sauber geharkten Kies fegten. Wären wir näher gewesen, so hätten wir ihr swisch-swisch hören können, ein luxuriöses und erotisches Geräusch. Auch hier war die Armee vertreten, allerdings nicht durch Schenken-Corporals und Gemeine. Hinter dem weißen Säulengang standen zwei Ladies und ein Gentleman und beobachteten alles, was vor sich ging, die Ladies trugen weitkrempige, unter dem Kinn mit Schals festgebundene Hüte, der kleine, korpulente Gentleman trug einen Zylinder und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Auf der Treppe standen zwei Offiziere, ziemlich jung und ohne Kopfbedeckung, deren Kaste weniger durch ihre Abzeichen verraten wurde als durch ihre Haltung, und unterhielten sich mit ihnen. Einer von ihnen, ein gutaussehender junger Mann mit einem langen, herabfallenden Schnurrbart, stand in nachlässiger Haltung da, seine Arme waren verschränkt, und ein schwarzer, polierter Stiefel ruhte auf der obersten Treppenstufe. Der andere, der einen Kopf kleiner war, teilte seine Aufmerksamkeit zwischen der Unterhaltung und Blicken, die er über die Schulter zurück auf die Stadt warf. Irgendwer sagte etwas, ich stellte mir vor, es wäre der junge Offizier gewesen, und alle lachten. Das silberhelle Lachen der Frauen wurde über kurzgeschnittenen Rasen, runde Beete mit Wintersträuchern und Pflanzen zu uns getragen.

      »Offiziere des Zweiten Blankshire sprechen den beunruhigten Einwohnern von Kerry Mut zu«, sagte Bob. »Ihr adrettes und munteres Aussehen ist für viele ein willkommener Anblick.«

      »Du hättest eine große Zukunft bei der Presse«, sagte ich, »wenn du dich bloß von Tully losreißen könntest.«

      »Vielleicht hat das Zweite Blankshire andere Pläne für uns«, erwiderte Bob. »Sie scheinen doch herzensgut zu sein.«

      Mit solchen Scherzen vertrieben wir uns die Zeit, als ob wir unsere männliche Sorglosigkeit unter Beweis stellen wollten, bis wir merkten, daß der jüngere der beiden Offiziere uns fixierte, und ich kann nicht sagen, warum uns das beunruhigte, schließlich waren wir ein respektabel aussehendes Paar, ein Schulmeister und ein Ladengehilfe, mit der Blässe derer, die selten im Freien sind. Die fünf Menschen da vor uns boten ein hübsches Bild, die beiden Damen und der behäbige Gentleman und die beiden Offiziere, und in der Abendluft stellte ich mir vor, wie ein Walzer aus dem Aufenthaltsraum strömte, Violinen und ein Flügel.

      »Vincent gehört eher hierher als wir beide«, sagte Bob. »Machen wir, daß wir fortkommen.«

      Auf der anderen Seite des Platzes wurden die Straßen wieder enger. Timoneys Schenke befand sich in der ersten Straße links auf halber Höhe – ein recht großes Haus, das Kneipenfenster