»Gnädiger Gott«, murmelte Vincent mir einmal zu, als wir zusammen an der Tür standen. »Vielleicht ist es gar keine gute Idee, diese Leute zu befreien!«
»Es sind die besten Bauern der Welt, wie Daniel O’Connell immer zu sagen pflegte.«
»Abgesehen von Sizilien«, meinte Vincent.
Aber wir schämten uns beide unserer Krämerskrupel, das verrieten uns die verlegenen Blicke, die wir dann tauschten. Wir waren in der endlosen schwarzen Nacht ebenso einsam wie die Wachtposten auf der Straße. Und unsere Angst war absolut begründet, denn durch die Arbeit dieser einen Nacht führte Ned uns weit darüber hinaus, einen Eid zu schwören, wie umstürzlerisch auch immer, einem anderen den Eid abzunehmen oder sogar nachts bewaffnet zu exerzieren. Für Vincent und mich zumindest, und sicher auch für Bob, wirkten die weit von allem anderen Farmland gelegene stinkende Hütte, die Frau und der Mann, die selten das Bedürfnis nach Worten zu verspüren schienen, die engstehenden, groben Mauern des schäbigen Zimmers, der Lehmboden wie Schauplatz und Embleme einer unbekannten Welt, über deren Grenzen wir uns verirrt hatten.
Bob ging es bestimmt auch so. Aber während der ersten Hälfte der Nacht war Bob zu sehr auf seine Aufgabe konzentriert, um sich über solche Fragen Gedanken zu machen. Er und Ned saßen nebeneinander auf einer an den groben Holztisch herangezogenen Sitzbank und hatten die Viertel-Zoll-Generalstabskarte vor sich ausgebreitet, eine Seite wurde von einem Holzklotz festgehalten, die andere von einem irdenen Krug. Bob hatte die Güter und Farmen angekreuzt, von denen wir wußten, daß dort Waffen zu holen waren – Schrotflinten, Gewehre, Pistolen oder was auch immer –, und er hatte für jede Gruppe eine Route ausgearbeitet und sogar berechnet, wieviel Zeit ihnen für jeden ihrer »Besuche« zur Verfügung stand, ein Wort, das er weniger aus Taktgefühl verwendete, als weil ihm kein passenderes einfiel.
Es war eine Aufgabe, die Ned, der sich in der Baronie nicht auskannte, ihm übertragen hatte, und er führte sie auf eine Weise durch, die mir beeindruckend fachmännisch vorkam. Er hätte genausogut in Tullys Laden stehen können, mit aufgekrempelten Ärmeln und einer um die Taille gebundenen Schürze, und Fässer voller Nägel und Säcke mit Zucker auflisten können. Ein-oder zweimal beugte ich mich vor, blickte zwischen ihnen hindurch und sah zu, wie sein Bleistift über die Karte wanderte, zuerst dieses, dann jenes x antippte und die blauen Linien der Bäche und die roten der Straßen übersprang. Unsere Welt befand sich auf diesem riesigen viereckigen Stück Papier, kodiert zu Karos und Kreisen und länglichen Kreuzschraffierungen. Die ganze Karte war mit einem blassen, gelblichen Braun eingefärbt, dem kalkigen Braun regennassen Lehms.
Aber die Burschen, die wir ausgesandt hatten, hatten fast alle noch nie eine Landkarte gesehen, und Bob hätte genausogut okkulte und sinistere Hieroglyphen befragen können. Er übersetzte für sie die Zeichen auf dem Papier in Straßen, Bäche, einen buckligen Hügel, einen zerfallenden Bergfried auf einer Weide, eine hochgewölbte Brücke. Er hatte sich da keine leichte Aufgabe gestellt, denn wenn es möglich war, dann schickten wir sie in Dörfer, in denen es weniger wahrscheinlich war, daß man sie erkennen würde, und damit über Straßen, die ihnen weniger vertraut waren als die ihrer eigenen Gemeinde. Ein-oder zweimal konnte er gerade noch in letzter Minute einen Fehler vermeiden.
Ein Mann namens Brendan Casey sollte seine Männer zu einem Gut namens Thatchford führen, Eigentum eines gewissen Major Singleton, eines indischen Offiziers im Ruhestand, dessen Waffenraum sehr gut ausgerüstet war, wie einer seiner Stallburschen uns verraten hatte.
»Nimm dich bei dem in acht«, riet Bob. »Ich habe im Laden mit ihm zu tun gehabt; er ist ein heißblütiger Bastard. In Gedanken ist er immer noch in Indien und tritt den armen Hindus in den Hintern.«
»Ach, ich werd mich vor Major Singleton schon gut genug in acht nehmen«, meinte Casey grinsend. Er war ein hagerer Mann um die dreißig, der die meisten seiner Vorderzähne eingebüßt hatte.
»Ja, mach das unbedingt«, sägte Bob.
»Weißt du, ich hab den Singleton schon seit zwei Jahren auf dem Kieker, seit er die Polizei geholt hat, weil ich meine Viecher auf seiner Weide neben meinem Haus stehen hatte. Da saß das Luder in seinem Gig, mit seinem hohen gestärkten Kragen, und Constable Belton von der Wache neben ihm, um seinem Gerede Macht zu geben. Der Mann vor ihm hat mir nie Ärger gemacht, ein anständiger alter Knabe, der in Cavan lebte.«
Ned hob den Kopf und sah Casey an, aber Bob rollte eine Weile seinen Bleistift auf der Karte hin und her, dann sagte er: »Ein Soldat aus Indien, Brendan. Er könnte sogar gegen euch fünf, kräftige Burschen mit geschwärzten Gesichtern, Widerstand leisten.«
»Das wäre aber sein letzter, bei Gott. Darauf kannst du dich verlassen, Bob.«
»Ja«, sagte Bob. »Aber das wird nicht nötig sein. Eine von den anderen Gruppen kann sich um Major Singleton kümmern.«
»Casey ist dein Name?« fragte Ned. »Hast du zugehört, Casey, als ich vor weniger als zwei Stunden zu euch allen gesprochen habe? Kein Haar soll diesen Leuten gekrümmt werden, keinem einzigen von ihnen. Wenn es Ärger gibt, dann zieht euch zurück. Benutzt eure Waffen nur, um euren Rückzug zu erkämpfen, wenn das sein muß. Weißt du noch, daß ich das gesagt habe?«
Es war klar, daß Casey das nicht mehr wußte, er war ganz außer sich vor törichter Erregung.
»Du hast eine Abteilung«, fuhr Ned fort, »weil Bob Delaney dich mir als vernünftigen Mann empfohlen hat, den die anderen respektieren. Beweise mir das.«
»Du kannst dich auf Brendan verlassen«, sagte Bob und lächelte Casey rasch und beruhigend zu. »Ich würde mein Leben dafür verwetten.« Was ein wenig zu weit ging, aber Casey waren diese Worte willkommen, er nickte und schluckte, wobei sein Adamsapfel große Aktivität an den Tag legte.
»Dein Leben steht aber nicht auf dem Spiel«, erklärte Ned. »Unsere Arbeit heute nacht ist so ähnlich, als ob wir mit einem Stock in einem Hornissennest herumstocherten. Und ich will nicht hören müssen, die Fenier hätten ihre Aktionen damit begonnen, Iren zum Mord an anderen Iren anzustacheln, andere Iren zu ermorden oder sie in ihren eigenen Herrenhäusern blutig und bewußtlos zu prügeln. Wir requirieren heute nacht Waffen für den bevorstehenden Krieg gegen den gemeinsamen Feind aller Iren, die Truppen der britischen Krone.«
»Kannst du dir das alles merken, Brendan?« fragte Bob trokken, aber mit demselben gelassenen Lächeln. »Wir requirieren Waffen.«
»Bei Gott«, erwiderte Brendan in einem letzten Versuch, seine Würde zu bewahren. »Die Jungs, die letzte Woche in Kerry losgeschlagen haben, hatten weniger feine Manieren. Als denen auf der Straße Polizisten begegnet sind, haben sie einfach losgeschossen.«
»Vergiß die wilden Raufbolde von Kerry«, sagte Ned. »Kilpeder steht unter meinem Befehl, und du kannst dich darauf verlassen, daß dein Major Singleton gegen mich wie ein sabbernder Säugling wirken wird, wenn meine Befehle nicht befolgt werden.«
Bob hatte seinen Bleistift auf seiner Karte von Punkt zu Punkt wandern lassen. »Schau her, Brendan«, sagte er. »Eine Meile hinter Thatchcroft, gleich neben der Brücke. Mrs. Heatherington, eine brave Methodistenwitwe, ein Sohn studiert in Dublin im Trinity Griechisch und Theologie. Und er jagt liebend gern Schnepfen und Kiebitze, wie früher sein Vater. Ich habe sie oft losballern sehen. Mach einen Besuch bei Mrs. Heatherington und vergiß nicht, auch Munition mitzunehmen. Ihre Traktatsammlung kannst du ihr lassen; heute nacht werden wir keine Erlösung brauchen.«
Casey erwiderte sein Grinsen, wobei er seine Sammlung fehlender Zähne zeigte.
Sie waren ein effektives, gut zusammenpassendes Paar, Ned Nolan und Bob Delaney, Ned ganz Metall und scharfe Kanten, Bob lässig und umgänglich bei aller Schroffheit. Ich frage mich, ob Ned unser Wesen je verstanden hat, während Bob es im Blut hatte, er konnte Befehle erteilen, und sie wurden befolgt, weil er sich nie als