Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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war. Dort hatte er zwei Bier getrunken. Und das hätte es sein sollen. Er hätte wieder gehen sollen. Aber da das Schicksal dem Menschen immer einen Schritt voraus ist, hielt es just an diesem Abend etwas für Jo bereit.

      Er war also sitzen geblieben und hatte sich noch ein drittes Bier bestellt. Als die Tür geöffnet wurde, hatte er den Kopf gehoben und beobachtet, wie ein Mann hereinkam, der Prototyp eines lieben, älteren Onkels: Anfang sechzig, mit vollkommen weißen Haaren, rotgesichtig und mit einem nicht zu übersehenden Bäuchlein unter dem viel zu dünnen Mantel. Der Mann war so unscheinbar, dass niemand sonst in der Kneipe Notiz von ihm zu nehmen schien. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund und sah sich dann um. Es war kein Tisch mehr frei, aber gleich neben Jo stand noch ein leerer Stuhl.

      Der Mann kam auf ihn zu. „Ist der hier noch frei?“ Er hatte eine sonore Stimme und sprach leise.

      Jo nickte und forderte ihn mit einer Geste auf, neben ihm Platz zu nehmen.

      Nachdem der Mann den Stuhl herangezogen und sich gesetzt hatte, fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare. Dann bestellte er Wodka beim Wirt, ehe er in Jos Richtung sagte: „Furchtbares Wetter.“

      „Ja.“

      „Das wird ein weißes Weihnachten.“

      „Ja.“

      Schweigen.

      Dann: „Mein Name ist Claas Mok.“

      „Jo Holmen.“

      Der Wirt brachte den Wodka.

      Dann folgte wieder Schweigen.

      Sie saßen einfach nur da und starrten in ihre Gläser.

      Schließlich sagte Mok: „Ich schätze, ich geh langsam meinem Ende entgegen.“

      Jo sah auf.

      „Ich rede vom Tod, mein Freund.“ Mok drehte das Wodkaglas zwischen seinen Fingern. „Davon, dass ich meinem Ende entgegengehe.“

      „Na ja“, meinte Jo, „das tun wir alle.“

      „Ja, das ist wohl richtig. Mich bestürzt nur, dass ich jetzt ein alter Mann bin und es nicht geschafft habe.“

      „Was?“

      „Das ist eine lange Geschichte.“

      „Ich hab Zeit.“

      Mok betrachtete Jo einen Moment lang. „Wollen Sie es wirklich wissen?“

      „Ja.“

      „Also, wenn Sie es wirklich wollen …“ Mok hielt den Zeigefinger seiner rechten Hand in die Höhe, „dann brauchen wir mehr Wodka.“ Er winkte dem Wirt und bestellte eine ganze Flasche.

      Der Wodka brannte in Jos Kehle, lief langsam seinen Körper hinab, bis er sich irgendwo in seinem Magen wie eine glühende Kugel entfaltete.

      „Sind Sie verheiratet?“, fragte Mok.

      „Nein.“

      „Also haben Sie auch keine Kinder.“

      „Nein. Aber ich hab eine Nichte. Edda.“

      „Sie hängen an ihr?“

      „Ja.“

      „Ja. Natürlich.“ Mok beugte sich nach vorne. „Vielleicht ist das die größte Herausforderung unseres Lebens. Die zu beschützen, die wir lieben.“

      „Vielleicht.“ Jo wartete ab, worauf das hier hinauslief.

      Mok lehnte sich wieder zurück. „Ich bin verheiratet. Seit einunddreißig Jahren. Ich habe eine Tochter, auf die ich sehr stolz bin und die ich sehr liebe. Und natürlich liebe ich auch meine Frau.“

      „Natürlich. Was wollten Sie erzählen?“

      „Genau. Der Fall, den ich nie lösen konnte.“ Mok nickte langsam. „Es war 1995. Das Mädchen hieß Sofie Dale. Es war siebzehn Jahre alt, als es spurlos verschwand.“

      Jo zog die Augenbrauen hoch, schwieg aber.

      „Sofie lebte in Ålesund“, redete Mok weiter. „Bei ihren Pflegeeltern. Ich war damals einer der ermittelnden Beamten. Wir haben nach dem Mädchen gesucht, es aber nicht gefunden. Irgendwann wurde die Suche eingestellt und alle Versuche, sie später noch einmal aufzunehmen, wurden abgewiesen.“ Mok hob den Blick und sah Jo in die Augen. „Noch heute bin ich verbittert darüber, wie es damals gelaufen ist, aber andererseits macht mich genau das noch sicherer.“

      „Sicherer worin?“

      „Dass ich Sofies Entführer kenne. Nein, ich kenne sie nicht persönlich, aber ich weiß, wer sie sind.“

      „Wer?“

      Mok verengte die Augen etwas. „Kennen Sie die Geschichte vom ‚Hörnermann‘?“

      Jo, der immer noch nicht wusste, wohin das hier führte, sagte: „Jeder Norweger kennt die Geschichte. Der Hörnermann war ein finsterer Geselle, ein Teufel, der irgendwo auf einem Berg wohnte und fand, dass es zu viele gute Menschen auf der Welt gäbe und dass man etwas dagegen tun müsse. Also zog er sich eine gut organisierte Armee heran, die damit begann, alles auszulöschen, was dem Hörnermann nicht in den Kram passte. Damit war vor allem das Gute gemeint. Er wollte das Gute ausrotten.“

      Mok seufzte. „Ja, das ist die Geschichte.“

      „Und was hat das mit Sofie Dale zu tun?“

      „Eine kluge und berechtigte Frage.“ Mok sah Jo wieder in die Augen. „Was, wenn es den Hörnermann tatsächlich gäbe?“

      „Nehmen Sie mich gerade auf den Arm? Das ist eine uralte Legende, weiter nichts.“

      „Das denken Sie. Sagt Ihnen der Name ‚Zaren‘ etwas?“

      „Nein. Wer soll das sein? Ein Russe?“

      „Kein Russe. So nennen sie ihn.“

      „Wer? Wer nennt ihn so?“

      Mok griff wieder nach seinem Glas und trank einen Schluck Wodka. „Wann sind Sie geboren, Jo?“, wollte er wissen, nachdem er das Glas wieder abgestellt hatte.

      „1946.“

      „Da war der Krieg schon vorbei.“

      „Ja.“

      „Dann haben Sie die Nazis nicht mehr kennengelernt.“

      „Nein.“ Allmählich stellte Jo sich ernsthaft die Frage, ob der Mann nicht ein bisschen durcheinander war. Vielleicht hatte er zu Hause schon Wodka getankt. Reichlich Wodka.

      „Ich hab 1972 bei der Polizei angefangen“, sprach Mok indessen weiter, „und in den Jahren habe ich unzählige Schicksale gesehen. Ich habe Jahre damit verbracht, im Dreck und Elend anderer Leute rumzuwühlen. Aber nichts und niemand hat mich so sehr mitgenommen wie der Zaren.“

      „Aber warum?“, fragte Jo. „Wer ist das?“

      „Der Zaren ist der vermutlich gefährlichste Mensch auf dieser Erde. Ich hab es leider nicht geschafft, ihn aufzuspüren und auszuschalten. Weil es verdammt noch eins nie auch nur einen einzigen Beweis gab. Ich weiß, dass es ihn gibt, aber der Mann ist total … verschwommen. Ein Schatten, ein Gespenst. Man kommt nicht an ihn heran, so sehr man es auch versucht.“

      Jo richtete sich etwas auf. „Wie kommen Sie darauf, dass er der gefährlichste Mensch auf dieser Erde ist, wenn man doch nichts über ihn weiß?“

      Mok lächelte dünn. „Vielleicht beflügelt er gerade deshalb so sehr meine Fantasie. Wenn ich ihn mir vorstelle, dann sehe ich eine Fantasiefigur vor mir, ungefähr so, wie wir ihn als Kinder in den vielen Comics gesehen haben: Hut bis über die Augen, schwarzer Mantel bis zum Boden und ein Gesicht mit dämonischen Zügen. Trotzdem ist er keinem Comic entsprungen. Er ist ganz real und niemand, niemand, hat so viele Menschen auf dem Gewissen wie er.“

      Sie sahen sich an.

      „Ich