Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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      Jo begann, in seinen Taschen nach einer Zigarette zu suchen.

      Mok beugte sich wieder nach vorne. „Während meiner Jahre bei der Polizei sind unzählige Menschen verschwunden, die nie wieder auftauchten. Auch nicht ihre Leichen. Und interessanterweise immer nur Menschen, die niemand vermisste oder über deren Verschwinden sich niemand Gedanken machte. Obdachlose, zum Beispiel. Von heute auf morgen, einfach weg. Und nie wieder aufgetaucht.“

      „Und Sie meinen, diese Menschen wurden alle von den Kranichen entführt?“

      „Ja.“

      „Sofie Dale auch?“

      Mok nickte.

      „Aber warum? Warum sollten diese Vögel Menschen entführen? Wozu?“

      „Hmmm“, brummte Mok. „Das weiß ich eben nicht. Aber ich weiß, dass ich recht habe.“

      Jo blickte skeptisch.

      „Ich verstehe, dass Sie Vorbehalte haben“, setzte Mok hinzu, „aber glauben Sie mir, ich bin kein Spinner. Ich bin alt und erschöpft, aber kein Spinner. Leider kann ich es nicht mehr beenden, denn ich werde bald tot sein.“ Er drehte den Kopf und seine Augen streiften in der Kneipe umher, so als suche er diesen Mann, den er „Zaren“ nannte, zwischen den anderen Gästen. Dann sah er Jo wieder an. „Der Zaren muss ausgeschaltet werden. Er ist ihr Gehirn. Wenn es ihn nicht mehr gibt, dann gibt es auch die Kraniche nicht mehr.“

      Irgendwo in Susanne kreischte etwas. Sie versuchte, ihre Zunge dazu zu bringen, Worte zu bilden, aber sie war zu spröde, bewegte sich nur klickend in ihrem Mund. Es brauchte ein paar Anläufe, ehe sie sagen konnte: „Mein Gott, Edda … Wenn dieser Mok tatsächlich auf den Spuren der Kraniche war …“ Sie brach ab. „Was ist dann passiert?“

      „Es gab noch am selben Abend, nach diesem Gespräch, einen Unfall. Mok wurde von einem Auto überfahren. Fahrerflucht. Er ist tot.“

      Susanne schluckte, hob eine Hand in die Höhe, die sie jedoch sofort wieder sinken ließ. „Das war kein Unfall. Niemals im Leben war das ein Unfall. Das waren die Kraniche. Die haben den Mann umgebracht.“

      „Das wissen wir nicht sicher.“

      „Das wissen wir nicht sicher?“ Susanne richtete sich auf. „Jetzt pass mal auf, Edda. Ich habe bereits Bekanntschaft mit diesen Kranichen gemacht und ich weiß, dass sie eines ganz besonders gut beherrschen: das Töten.“ Dann sprudelte sie mit allem heraus: „Du erinnerst dich doch noch an den Auszug einer Mail, den wir gelesen haben, als ich noch hier in Norwegen war? Die Mail von Roman Vukovic, dem irren Psychopathen, der mich wochenlang beobachtete und auskundschaftete. Er schrieb in dieser Mail, er wüsste, dass die Kraniche dafür verantwortlich wären, dass ich im letzten Sommer in der geschlossenen Psychiatrie landete.“

      „Ich erinnere mich“, sagte Edda. „Ich war dabei.“

      „Eben. Daraufhin flog ich zurück nach Deutschland, wie du weißt, um herauszufinden, wer zum Teufel diese Kraniche sind. Tja – was soll ich sagen? – ich habe es herausgefunden. Und das, was ich herausgefunden habe, ließ mich bis ins Mark erzittern.“ Der Stuhl quietschte, als Susanne ganz nach vorne rutschte. „Die Kraniche, Edda, sind tatsächlich ein Heer, eine Streitmacht. Es sind Nazis, die die Weltherrschaft übernehmen wollen. Oder jedenfalls so etwas Ähnliches. Mok hat recht, sie wollen das Gute von innen heraus ausrotten. Es sind Satanisten, die nach der ultimativen Macht streben. So ist das.“

      Edda hatte gerade ihre Teetasse angehoben, jetzt ließ sie sie wieder sinken. „Was denn nun? Nazis oder Satanisten? Du musst dich schon entscheiden.“

      „Sie sind beides“, sagte Susanne. „Sie sind ein gottverdammter Albtraum. Vielleicht hast du schon einmal von den Behauptungen gehört, dass Hitler sich auf seinem Weg zur Macht mit schwarzer Magie, satanischen Riten und Ähnlichem beschäftigte. Seine Pläne für die Herrenrasse basierten auf völkischem Okkultismus. Er versuchte seine Rasse von den Schwachen und Nichtsnutzigen zu befreien, indem er sie tötete. Und nichts anderes tun die Kraniche auch.“

      Edda öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Susanne hob eilig eine Hand in die Höhe. „Glaub es. Es ist wahr.“

      „Und woher weißt du das alles?“

      „Ich habe dir doch bei einem unserem letzten Telefonat erzählt, dass ich in Deutschland einen Mann kennengelernt habe. Sein Name ist Karl Dickfeld, ich nannte ihn aber nur den Professor, weil er mich an meinen Professor an der Uni erinnerte.“ Susanne machte eine Handbewegung. „Ist auch egal. Er erzählte mir auf jeden Fall, dass die Kraniche sich bereits in den frühen Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts formiert haben. Angeführt von einem Mann namens Elmer Nilson, einem Norweger. Und dass sie bereits damals ein Ziel verfolgten. Sie bereiteten sich auf die neue Zeit vor, auch bekannt unter dem Namen: Tausendjähriges Reich.“

      „Wie bitte?“

      „Ich hab dem Professor zuerst auch nicht geglaubt. Ich stand ihm vermutlich genauso skeptisch gegenüber wie Jo diesem Mok. Aber er hatte recht mit jedem Wort.“ Susanne rieb sich über die Stirn. „Elmer Nilson und seine Bande fanden damals wohl, es sei ihre Aufgabe, dieses tausendjährige Reich vorzubereiten. Und so formierten sie sich, während sich gleichzeitig in Deutschland die ersten Nazis formierten. Irgendwann taten sich beide Seiten zusammen, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg zerfielen die Kraniche nicht, sondern, im Gegenteil, sie breiteten sich immer weiter aus und ihr Einfluss wurde immer größer.“ Susanne machte eine Pause und als Edda nichts darauf sagte, redete sie weiter: „Es ist wahr, Edda. Es gibt diese Kraniche und sie verfügen über eine Menge Macht. Sie haben eine Menge Leute auf ihrer Gehaltsliste – Polizisten, Politiker, Journalisten, Akademiker … und Mörder. Und die verstehen was von ihrem Handwerk, darauf kannst du dich verlassen. Ich sage dir, diese Vögel führen einen Krieg und sie wollen ihn um jeden Preis gewinnen. Sie wollen den Untergang des Rechtsstaates und sie setzen alles daran, um das auch zu erreichen.“

      Ein paar Sekunden vergingen, dann sagte Edda: „Ist das alles?“

      „Reicht das nicht? Edda, wenn Mok recht hat, dann wissen wir jetzt, wer der Kopf dieser Vögel ist. Ein Mann, der sich ‚Zaren‘ nennt.“

      Edda erhob sich, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn.

      „Ich glaube nicht, dass Mok einfach nur eine Geschichte erzählt hat, weil ihm langweilig war“, sagte Susanne. „Er wusste von den Kranichen. Er wusste sehr genau, wovon er sprach. Und genau deshalb ist er jetzt vermutlich tot.“

      Edda machte den Kühlschrank wieder zu, ohne hineingesehen zu haben. „Es könnte sich aber auch um einen tragischen Unfall mit Fahrerflucht gehandelt haben.“

      „Ja. Könnte. Aber ich glaube es nicht.“

      „Und was hat das Ganze mit Sofie Dale zu tun? Warum sollten die Kraniche Menschen entführen und verschwinden lassen? Warum ein Mädchen wie Sofie Dale?“

      „Tja, das müssten wir herausfinden.“

      Edda hatte den Griff des Kühlschranks noch nicht losgelassen. Sie sah Susanne einfach nur an.

      Als zu lange nichts von ihr kam, sagte diese: „Offenbar hat Jo ja auch noch einmal darüber nachgedacht. Wenn es stimmt, was du sagst, dann hat er angefangen zu recherchieren.“

      „Ich glaube es. Sicher bin ich mir nicht.“ Endlich ließ Edda den Griff des Kühlschranks los und kam zurück zum Tisch. „Aber er war in den letzten beiden Tagen irgendwie … anders. Er hat getan, als wäre alles in Ordnung, aber mich kann er nicht täuschen. Er wirkte nervös. Schreckhaft. Von einer inneren Anspannung, die ich bei ihm so nicht kannte.“

      „Habt ihr darüber geredet?“

      „Nein. Ich hab ihn zwar gefragt, wie es ihm geht und so, aber er hat geantwortet, es wäre alles in Ordnung.“

      Der Wind blies so heftig gegen das Fenster, dass sie zusammenzuckten.

      „Du meinst, er hat etwas herausgefunden? Etwas, das ihn vielleicht so sehr aufregte, dass