Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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müssen die Polizei rufen“, sagte Eva.

      „Nein“, gab Julia zurück. „Wir müssen von hier verschwinden.“

      „Julia, wir können doch nicht …!“

      „Wir können nichts mehr für ihn tun.“

      „Mag sein. Trotzdem kommt es mir nicht richtig vor, einen Mann zurückzulassen, der an die Wand genagelt wurde wie Jesus Christus.“

      Julia ging zu Eva, fasste sie bei den Schultern und sah ihr in die Augen. „Wir können nichts mehr für ihn tun. Und wenn das tatsächlich die Kraniche waren, dann sollten wir uns auf gar keinen Fall länger als nötig hier aufhalten.“

      Damit griff sie nach Evas Hand und zog sie mit sich aus dem Haus.

      2. KAPITEL

      „Kennen Sie die Geschichte vom Hörnermann?“

      Norwegen

      Noch lange danach würde Edda Holmen sich an diesen frühen Abend erinnern. Ebenso, wie sie die vergangenen Tage nicht vergessen würde. Mitte Dezember hatte eine bittere Kälte eingesetzt und die Temperaturen waren immer weiter gefallen. Dann, vor drei Tagen, stiegen die Temperaturen wieder bis auf null Grad an und brachten starke Schneefälle über das Land. Eine Schicht Schnee fiel auf die nächste, sodass die Räumdienste in Dauerbetrieb inzwischen für einen zwei Meter hohen Haufen gefrorenen Schnees an den Straßenrändern gesorgt hatten.

      So hatte der Winter auch an diesem frühen Abend alles fest im Griff. Auch Eddas Peugeot, der wirklich nicht zu den neuesten Errungenschaften der Welt gehörte. Während der Wind die dichten Schneeflocken gegen die Windschutzscheibe trieb, war die Heizung mal wieder ausgefallen. Die Scheiben beschlugen ständig und sie musste mehrmals mit einem Taschentuch eine freie Sichtfläche wischen, während sie dem schmalen Band folgte, das einer der Schneepflüge auf der Straße hinterlassen hatte. Da sie keine Handschuhe trug, waren ihre Hände schon ganz taub und ihre Füße prickelten schmerzhaft. Zu all dem kam noch, dass die Helligkeit der Scheinwerfer nicht so total war wie sonst, es war eher eine Art Dämmerlicht, hell an den Rändern und in der Mitte nichts als weiße Flocken.

      Edda stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie war müde. Sie wollte ins Warme. Sie wollte sich in die Badewanne legen, auftauen und irgendwie zur Ruhe kommen. Den Plan, sich an den Computer zu setzen und zu arbeiten, den sie am Morgen noch geschmiedet hatte, verwarf sie wieder. Darauf verspürte sie nicht mehr die geringste Lust.

      Als sie zehn Minuten später endlich vor dem bescheidenen Haus ihres Onkels anhielt, dessen Zufahrt ebenfalls hinter einem meterhohen Schneehaufen verborgen lag, atmete sie erleichtert durch.

      Kaum hatte sie den Wagen verlassen, peitschte ihr ein eiskalter Wind ins Gesicht. Ein weiterer Windstoß riss ihr die Jacke auf und ließ sie bis ins Mark frösteln. Frierend und bibbernd zog Edda den Reißverschluss der Jacke zu und eilte zum Haus. So schnell es ihr mit ihren tauben Fingern möglich war, schloss sie auf, und als sie eintreten wollte, erfasste der Wind die Tür und knallte sie gegen die Innenwand. Eilig griff sie nach der Tür und schloss sie hinter sich.

      Der Geruch von gebratenem Fleisch hing in der Luft, es herrschte vollkommene Stille.

      Während sie sich auf den direkten Weg ins Badezimmer machte, zog Edda die Jacke aus. Vor dem Waschbecken blieb sie stehen, um ein paar Mal tief durchzuatmen. Dann drehte sie den Hahn auf und hielt die eiskalten Hände unter heißes Wasser. Schließlich setzte sie sich auf den Toilettendeckel und rieb sich über die brennenden Augen. Die Müdigkeit ergriff immer weiter von ihr Besitz. Vielleicht, überlegte sie, sollte sie das Baden verschieben, sich stattdessen einen Tee kochen und ins Bett legen.

      Sie erhob sich wieder, verließ das Badezimmer und ging in die Küche. Licht machte sie keins an, das Licht der Laterne vor dem Fenster genügte. Sie ließ gerade Wasser in einen Topf laufen, als plötzlich das Licht anging.

      Mit einem Ruck drehte sie sich um und machte erschrocken einen Satz zurück. „Jesus Christus! Was in aller Welt machst du hier?“

      „Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

      „Betrachte mich als zu Tode erschreckt.“ Eddas zitternde Hand lag auf ihrem klopfenden Herzen. „Du kannst doch nicht einfach hier herumschleichen wie ein Gespenst! Warum hast du nicht gleich auch noch Huh! geschrien?“

      „Entschuldige“, sagte Susanne noch einmal.

      „Wie bist du überhaupt ins Haus gekommen?“

      „Ich habe einen Schlüssel, schon vergessen? Jo hat ihn mir gegeben, bevor ich nach Deutschland geflogen bin.“

      „Oh, ja. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Mensch, Süße … Komm, lass dich umarmen.“ Edda legte die Arme um Susannes Hals und drückte sie herzlich. „Ich bin wirklich froh, dich zu sehen, auch wenn ich das nächste Mal eine andere Begrüßung vorziehen würde. Seit wann bist du schon hier?“

      „Seit etwa einer Stunde.“ Susanne erwiderte die Umarmung. „Ich hab geklopft, aber es hat niemand aufgemacht. Also bin ich rein und hab gewartet. Noch einmal: Entschuldigung.“

      Edda ließ sie wieder los und betrachtete sie einen Moment lang. „Wieso hast du nicht vom Flughafen aus angerufen und Bescheid gegeben, dass du wieder in Norwegen bist?“

      „Ich hab‘s versucht, aber die Leitung war tot.“

      „Wirklich?“ Edda ging in den Flur und hielt sich den Telefonhörer ans Ohr. „Tja. Hm. Muss am Wetter liegen.“

      „Ich war schon froh, dass ich überhaupt noch einen Flug bekam“, sagte Susanne. „Hübscher Baum übrigens.“

      „Was für ein Baum? Was meinst du?“

      „Den Christbaum im Wohnzimmer.“

      „Oh. Ja, der. Er ist riesig. Ich frage mich, wie Jo es schaffte, den Baumschmuck an den oberen Zweigen anzubringen.“ Edda betrachtete Susanne noch einmal ausgiebig. „Deine Verwandlung irritiert mich immer noch. Als Susanne, die Punkerin, hab ich dich kennengelernt, und an Claudia Müller, die elegante Geschäftsfrau, hab ich mich noch nicht gewöhnt.“

      „Ich hab mich selbst noch nicht daran gewöhnt.“ Susanne ließ sich in der Küche auf einen Stuhl sinken. „Vermutlich werde ich das auch nie. Aber jetzt sag mir bitte, wie geht es Jo?“

      Edda griff wieder nach dem Topf, in den sie vorhin Wasser hatte laufen lassen. „Er liegt im Krankenhaus.“

      „Ja, das sagtest du bereits am Telefon. Auch, dass er einen Herzinfarkt hatte. Ich wollte aber wissen, wie es ihm inzwischen geht?“

      Edda stellte den Topf auf eine Herdplatte, schaltete sie ein und drehte sich wieder zu Susanne um. „Die Ärzte hoffen, dass er bald wieder aufwacht. Wir müssen einfach abwarten.“ Sie griff nach zwei Tassen. „Aber natürlich wird er wieder aufwachen. So boshaft ist Gott nicht. Er wird mir Jo nicht wegnehmen. Jo wird ewig leben.“

      „Natürlich wird er das.“

      Das Licht begann zu flackern. Beide sahen hinauf zur Deckenlampe.

      „Das hört gleich wieder auf“, sagte Edda. „Liegt auch am Wetter.“

      „Du hast am Telefon gesagt, er hätte es heraufbeschworen. Wie hast du das gemeint?“

      Edda hob die Hände in die Höhe. „Ich glaube, er hat auf eigene Faust Nachforschungen angestellt.“ „Nachforschungen? Was für Nachforschungen?“

      „Über Sofie Dale.“

      „Wer ist das?“

      Es dauerte zwei oder drei Sekunden, dann begann Edda zu erzählen…

      48 Stunden zuvor.

      Hätte Jo Holmen die Kneipe nur ein klein wenig früher wieder verlassen, dann wäre er Claas Mok gar nicht mehr begegnet. Hätte er sich nicht noch ein Bier bestellt und wäre nicht noch etwas sitzen geblieben, dann wäre vermutlich alles ganz anders gekommen. Hätte er die