„Moment“, rief ich.
„Ich glaube, du warst zu lange single“, merkte Sebastian nachdenklich an.
„Oh, mein Gott, oh, mein Gott“, stöhnte ich. Unterlagen fielen vom Schreibtisch, als ich suchte. Vermutlich hatte Jun hundertmal angerufen und sich gefragt, wo ich war. Ich hatte vollkommen das Zeitgefühl verloren – und offenbar auch mein Handy.
„Hier ist ein Typ, der zu dir will“, beharrte Adam.
„Sag ihm, er soll warten“, fauchte ich.
„Ich mache jetzt lieber Schluss“, sagte Sebastian und das Skype-Gespräch endete.
Ich schob meinen Stuhl aus dem Weg, um unter meinen Schreibtisch zu kommen. „Für so was habe ich jetzt keine Zeit.“
„Hi, Aubrey.“
Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich mit dem Kopf gegen die Tischplatte stieß. „Au. Scheiße.“ Ich sank auf den Boden, um mir den Kopf zu halten. Dann drehte ich mich um und mein Blick fiel auf Beine und einen Trolley an meinem Schreibtisch. Ich kroch darunter hervor und hob den Kopf.
Jun Tanaka. Leibhaftig.
Mein Herz stotterte kurz. Wir waren uns seit zwei Jahren nicht mehr persönlich begegnet, und zu diesem Zeitpunkt war ich noch mit seinem damaligen Partner ausgegangen. Die Sache mit Matt und mir hatte unschön geendet, weshalb ich überstürzt auf Amerikas Schwanz geflüchtet war. Ich verdankte es Sebastian, dass ich jemals wieder mit Jun gesprochen hatte. Hätte er nicht dringend wegen irgendeiner komplizierten Angelegenheit, in die er um den Valentinstag herum verwickelt gewesen war, Kontakt zum FBI aufnehmen müssen, wäre Jun jetzt nicht hier gewesen.
Ich hätte nie erfahren, dass Jun seit Jahren in mich verliebt war.
Jun lächelte auf mich herab, wobei sein ganzes Gesicht strahlte und kleine Fältchen neben seinen Augen auftauchten.
Ja. Für diese versehentliche Verkupplung musste ich mich unbedingt bei Sebastian bedanken.
„Jun.“ Ich kämpfte mich auf die Füße.
Er breitete die Arme aus und beugte sich zu mir herunter. Als ich Jun das letzte Mal gesehen hatte, war er lediglich ein attraktiver, scheinbar heterosexueller Agent gewesen. Jetzt, nachdem wir ungefähr eineinhalb Monate jeden Tag geredet und am Telefon oder bei Skype geflirtet hatten, stand er vor mir. Immer noch attraktiv – vielleicht sogar noch mehr als vor zwei Jahren – und, wie ich seitdem erfahren hatte, ein absolut gar nicht heterosexueller Agent.
Wegen der ersten Berührungen hatte ich mir so viele Sorgen gemacht. Es war dieselbe Aufregung und Nervosität, die man beim ersten Treffen mit einer im Internet kennengelernten Person verspürte, nur dass es mir noch seltsamer vorkam, weil hier bereits eine gewisse persönliche Beziehung vorlag. Aber ja – die erste Umarmung. Sollte ich mich dabei auf etwas Freundschaftliches beschränken? Oder etwas Intimes daraus machen? Würde es sich richtig anfühlen, ihn auf diese Weise zu berühren? Oder würde augenblicklich eine Alarmglocke in meinem Kopf schrillen, die mir mitteilte, dass wir nicht für mehr als eine Freundschaft bestimmt waren? Hätte er dann seinen gesamten Urlaub umsonst für diesen Besuch bei mir verschwendet?
Ach, scheiß drauf.
Ich legte meine Arme fest um seinen Hals. Jun war wesentlich größer, gefühlte zwei Meter. Da ich ihn deshalb auf diese Weise nicht gut an mich ziehen konnte, senkte ich die Arme, schob sie unter seinen hindurch und schlang sie in Brusthöhe um ihn. Juns Arme legten sich auf meine Schultern und er streichelte mir durchs Haar.
Ich lächelte.
Oh ja.
Das war sie.
Die Perfektion, die in meinem seltsamen Leben gefehlt hatte.
„Es tut mir so leid“, sagte ich, während ich mich etwas löste, um zu ihm aufzusehen.
Jun lockerte ebenfalls seinen Griff, ließ seine Hände jedoch auf meinen Schultern liegen. „Das macht nichts.“
„Und ob es das tut. Ich wollte um zehn fahren, um dich abzuholen, aber ich war so durcheinander und abgelenkt, dass es jetzt Mittag ist und …“
„Es ist nicht schlimm, Aubrey“, beharrte er.
Jun hatte eine tiefe Stimme. Sehr tief. Und wenn er japanisch sprach? Dann wurde sie ernsthaft noch eine Oktave tiefer. Na ja, falls das möglich war. Es war wirklich schade, dass es sich bei ihm um einen verhältnismäßig ruhigen Menschen handelte, denn ich hätte ihm voller Begeisterung endlos lange zugehört. Vor einer Woche hatte ich mich online umgesehen, um herauszufinden, ob tiefe Stimmen eine Art Fetisch waren oder ich allmählich verrückt wurde. Wie sich herausstellte, belegten Studien, dass Männer mit tiefen Stimmen häufiger bei der Partnerwahl bevorzugt wurden.
Tja, die Wissenschaft konnte also nicht meine Narkolepsie heilen, aber immerhin bewies sie, dass ich bereit gewesen wäre, mit Jun mehrere Kinder zu zeugen, wenn die biologische Möglichkeit bestanden hätte.
Seufzend musterte ich ihn. Ich erinnerte mich nicht, ihn jemals in etwas anderem als seinem „Ich bin FBI-Agent“-Anzug gesehen zu haben. Daher war andere Kleidung bei ihm ein überraschender Anblick. Zwar hatte ich im Urlaub keine Krawatte erwartet, aber mit der engen schwarzen Hose und dem modernen T-Shirt mit etwas tieferem Ausschnitt wirkte er, als wäre er einem Modemagazin entstiegen. In seinem sonst glatt rasierten Gesicht waren leichte Stoppeln zu sehen und anstelle seiner Kontaktlinsen trug er eine Brille mit schwarzem Gestell. Juns Haar war professionell zerzaust – der So-bin-ich-schon-aufgestanden-Look. Es war sexy.
„Wie g…“, begann er.
„Du siehst echt heiß aus“, platzte es aus mir heraus.
Jun verstummte, blickte über meine Schulter hinter mich, wo vermutlich noch Adam herumlungerte, und lächelte. Er hob eine Hand, um mir erneut übers Haar zu streicheln.
„Wie bist du hergekommen?“
„Ich habe ein Auto gemietet.“ Jun ließ mich los, woraufhin ich mir augenblicklich das warme Gewicht seiner Hände zurückwünschte. „Ich habe versucht, dich anzurufen, aber habe nur die Mailbox erreicht.“
„Ja, ich glaube, ich habe mein Handy verlegt“, brachte ich als ziemlich armselige Entschuldigung vor. Ich betrachtete das bei der Suche danach verursachte Chaos.
Adam räusperte sich und zog die Augenbrauen hoch, als ich mich umdrehte. „Also ist alles cool?“
„Cool“, antwortete ich. „Entschuldige. Ähm, Adam, das ist Jun Tanaka. Mein … mein – tja.“ Ich lachte und legte eine Hand auf Juns Arm. „Jun, das ist Adam Love. Er leitet den Souvenirshop.“
Jun nickte. „Angenehm.“
„Ebenfalls“, antwortete Adam. „Aubs redet viel über Sie.“
„Ich rede nicht v…“ Ich unterbrach mich und sah Jun an. „Sollen wir irgendwo zu Mittag essen?“
Kapitel 3
ICH WUSSTE nicht, was ich mit meinen Händen machen sollte. In die Tasche stecken? Das kam mir distanziert vor. Sie beim Gehen zu verschränken, wäre ebenfalls seltsam gewesen. Ich hätte sie einfach ganz normal neben mir lassen können, ohne so durchzudrehen – interessante Vorstellung. Doch ich verspürte die gleiche Nervosität wie vor der Umarmung. Wir waren nicht offiziell zusammen, Juns Gedanken sah man ihm nicht gut an und er sprach seine Wünsche auch nicht gerade offen aus. So wusste ich nicht, ob ich seine Hand halten sollte.
„Das Autoradio konnte anscheinend nur Lieder von Cher oder Jimmy Buffett empfangen“, sagte Jun gerade.
„Mein Beileid.“
Er lachte.
Ich blieb stehen. „He, warte mal kurz.“
Jun wartete und sah mich an. „Stimmt etwas nicht?“
„Ich werde einfach fragen, weil ich glaube,