Mit einem Stöhnen rieb ich mir kräftig das Gesicht. Ein paar Minuten länger und ich würde erneut auf der Tastatur einschlafen. Es dauerte ewig, weil ich beschlossen hatte, mir mehr als nur diesen Morgen anzusehen. Schließlich hätte jemand … über Nacht im Haus versteckt gewesen sein können oder so. Ich wollte nichts übersehen, auch wenn vor den Kameras bisher nur Touristen aufgetaucht waren.
Als das „Dideldi“ eines eingehenden Skype-Anrufs ertönte, löste ich die Hände von meinem Gesicht. Meine Webcam schaltete sich ein und mein so gern in Schwierigkeiten geratender, antiquitätenbegeisterter Freund Sebastian Snow tauchte auf dem Bildschirm auf. Wir kannten uns aus alten Zeiten, als ich noch in einem Pfandhaus in New York gearbeitet und er nur von seinem eigenen Geschäft geträumt hatte. Jetzt besaß er einen coolen, wenn auch etwas bizarren Laden im East Village, mit dem er viel Erfolg hatte.
„Hey, Süßer“, sagte ich. „Du hast mir das Leben gerettet.“
„Habe ich das?“, fragte Sebastian.
„Und ob. Ich habe mir todlangweilige Überwachungsvideos angeschaut. Du siehst gut aus.“ Das sagte ich nicht nur aus Höflichkeit. Zwar war Sebastian nie mein Typ gewesen, doch seit er mit seinem neuen Freund zusammen war, fiel mir bei jedem unserer Gespräche auf, dass er gesünder wirkte. Und glücklicher. Man hätte wohl sagen können, dass er strahlte. „Ist das ein blaues Hemd?“
Sebastian sah kurz hinunter. „Zumindest sagt man mir das. Warum siehst du dir Überwachungsvideos an?“
„Was? Kein Aubrey, du siehst ebenfalls schneidig aus?“
„Du siehst schneidig aus“, antwortete er. „Was für Videos?“
„Du leidest unter einer krankhaften Besessenheit.“
Sebastian rückte seine Brille zurecht. „Solche Angelegenheiten kleben an mir wie Scheiße in Schuhprofilen.“
„Ein schönes Bild.“
„Ist alles in Ordnung da unten?“
Ich runzelte die Stirn und lehnte mich zur Seite, um einen Aktenschrank zu öffnen. „Ich bin nicht sicher.“ Ich griff weit in den Schrank, damit ich eine versteckte Schachtel Zigaretten herausholen konnte. Anschließend richtete ich mich auf, sah wieder den Bildschirm an und zog eine Zigarette aus der zerdrückten Schachtel. „Du musst mir versprechen, mich nicht wie einen Verrückten anzusehen.“
„In Ordnung.“
Ich schob mir die Zigarette zwischen die Lippen, widerstand jedoch dem Drang, sie anzuzünden. Allein das Gefühl war beinahe befriedigend genug. „Heute Morgen“, murmelte ich. „Als ich im Schrank war …“
Sebastian grinste.
„Hör auf.“
„Ich habe nichts gesagt.“
Ich verdrehte die Augen. „Ich war in einem großen Wandschrank im alten Haus, weil ich da die Tapete entfernen wollte. Dabei habe ich eine verborgene Nische in der Wand gefunden.“
Er wurde aufmerksamer und beugte sich zum Bildschirm vor. Gott, er brauchte ein paar neue Hobbys.
„Und, ähm … ein Skelett …“
„Skelett?“, fragte Sebastian über mich hinweg.
Ich bedeutete ihm mit einer Geste, zu schweigen – als ob das lange vorhalten würde. „Da war ein Skelett. Ich schwöre bei Gott, dass ich es gesehen habe. Es hat mich zu Tode erschreckt.“
Sebastian hob fragend die Hände. „Und?“
„Und … was?“
„Du hast ein Skelett gefunden. Was hast du damit gemacht?“
„Du reagierst darauf viel zu ruhig“, sagte ich und nahm die Zigarette aus dem Mund. „Ich habe die Polizei gerufen. Ein Detective ist aufgetaucht, ich habe ihn nach oben gebracht – es war verschwunden.“
Sebastian zog eine Augenbraue hoch. Er wirkte wie ein Hund, der einen Reifen entdeckt hat und sich bereit machte, ihn zu jagen. „Wenn du Skelett sagst, gehe ich davon aus, dass es nicht … frisch war.“
„Nein, es war alt. Ein genaues Alter kann ich allerdings nicht angeben. Ich datiere lieber nautische Gegenstände als sterbliche Überreste.“
„Irgendeine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?“
„Er hat kein Namensschild getragen, Seb.“
„Sehr witzig. Du bist der Verwalter eines denkmalgeschützten Hauses.“
Ich drehte die Zigarette mit den Fingern und schob sie mir wieder zwischen die Lippen. „Hier hat nur die Familie Smith gelebt.“
Er starrte mich erwartungsvoll an.
„Kumpel, du musst dir ein paar neue Hobbys suchen.“
Sebastian runzelte die Stirn.
„Ich möchte nicht zu viel mutmaßen“, fuhr ich fort. „Aber … es gibt ein Gerücht … über Captain Smith. Sein Tod war eine umstrittene Angelegenheit und er ist nie auf dem Familienfriedhof gelandet.“
„Wo ist er gelandet?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Es gibt keine Beweise, dass die Geschichte stimmt. Er hat einen Gedenkstein drüben auf dem Friedhof von Key West. Einige Einheimische sagen auch, dass er der berüchtigte Pirat namens einäugiger Jack war und dass sein Geist im Haus spukt, also … sollte man nicht jedes Wort davon auf die Goldwaage legen.“
„Vielleicht wollte jemand verhindern, dass er von dir identifiziert wird“, schlug Sebastian vor.
Ich stellte fest, dass ich auf dem Zigarettenfilter kaute, weshalb ich sie wieder senkte. „Meinst du?“
Er zuckte mit den Schultern. „Warum sollte das Skelett sonst verschwinden?“
Ich zupfte nachdenklich an einem meiner Ohrringe. „Klingt, als könnte die Sache gefährlich werden.“
„An deiner Stelle würde ich vorsichtshalber noch einmal mit der Polizei reden.“
„Der blöde Bulle glaubt, ich hätte es erfunden“, brummte ich.
„Ich kann Calvin um einige Anrufe bitten. Vielleicht gelingt es ihm, jemanden so zu ängstigen, dass er zuhört“, bot Sebastian an.
„Ich brauche die Hilfe deines Freundes nicht“, sagte ich und wedelte mit der Hand. „Jun hat einen größeren Einflussbereich.“
„So nennt ihr Jungs das also?“
„Was wolltest du überhaupt?“, fragte ich streng.
Sebastian gab einen leisen Laut von sich und lächelte. „Vor kurzem habe ich einen für die Verwendung auf See bestimmten Werkzeugsatz erworben. Ich hatte gehofft, dich vor deinem Mittagsschlaf zu erwischen, damit du mir etwas dazu sagen kannst.“
„Mittag?“ Ich sah auf die Uhr. „Scheiße, es ist wirklich Mittag?“, schrie ich.
Sebastian zuckte zusammen. „Ähm, ja. Geht es dir gut?“
„Oh, Gott. Ich muss los.“
„Aubs“, rief Adam.
„Ich habe Jun über zwei Stunden am Flughafen stehen lassen.“ Ich sprang auf.
„Aubrey“, sagte Adam abermals an der Tür.
Ich drehte mich hastig um, ließ die Zigarette fallen und suchte den Schreibtisch nach meinem Handy ab. „Was ist?“
„Du