»Noch schlimmer. Vielleicht hätte dein Vater doch länger bleiben und besser auf dich aufpassen sollen. Oder willst du mich nur schockieren?«
Lady Jasmin packte Ellen an den Schultern.
»Sag Vater ja nichts davon. Ich bin fast zerschmolzen. Ich war weich wie Butter in Hubertus’ starken Armen. Er knabberte an meinem Ohr und hätte am liebsten überall an mir geknabbert … aber was weißt du von solchen Dingen, ich will dich nicht in Verlegenheit bringen.«
»Dafür ist es schon zu spät.«
Jasmin ließ Ellen los und kühlte ihre feurigen Wangen mit beiden Händen. Sie lief zum Fenster, kniete sich auf das Sofa, das davorstand, stützte ihre Ellbogen auf der Lehne ab und blickte hinaus. Funkelnde Regentropfen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie sich in Eis verwandeln oder Wasser bleiben sollten, schossen im Licht der Straßenlampe vorbei, bevor sie in der bodenlosen Dunkelheit der menschenleeren Straße verschwanden.
»Hoffentlich ist er nicht nass geworden, nachdem er mich zur Kutsche begleitet hat«, sagte sie mit einem verträumten Blick.
»Bei diesem Hundewetter eher gefroren, würde ich sagen«, antwortete Ellen. »Hättest dem Schurken lieber eine Ohrfeige verpassen sollen. Das meine ich ernst. Was er gemacht hat, nennt man in vornehmen Kreisen Verführung. Nur gut, dass wir morgen die Stadt verlassen und du ihn danach eine Weile nicht siehst!«
Als Antwort wandte sich Jasmin vom Fenster ab und starrte ins Licht der Kerzen, die immer noch auf der Kommode brannten.
»Du bist sicher erleichtert zu hören, dass wir vom Kutscher unterbrochen wurden«, sagte sie. »Du musst mein Kleid übrigens reinigen, die Säume sind von der Nässe auf dem Gehweg verdreckt. Wie es sich wohl anfühlen wird, wenn wir nicht mehr unterbrochen werden?«
»Ich wette, davon träumt er schon die ganze Zeit«, murmelte Ellen, während sie eine Stoffhülle über Kleid und Bügel zog, bevor sie alles in den Kleiderschrank hängte. Laut ergänzte sie:
»Aber was weiß Ellen schon von solchen Dingen? Ab ins Bett, mein Kind. Ich meine, Mylady.«
»Noch kannst du mich ›Kind‹ nennen, Ellen«, sagte Lady Jasmin in einem sanften Ton. Sie schlich sich an Ellen heran, umarmte sie von hinten und legte ihren Kopf auf ihren Rücken.
»Ich frage mich, was so ein vornehmer Mann von Welt in mir sieht, hohlköpfig und dumm, wie ich bin. Und sag jetzt bitte nicht: ›Das frage ich mich auch‹. Das wolltest du gerade sagen, nicht wahr?«
»Auch wenn ich das oder sonst was hätte sagen wollen, hätte ich bei deinen Wortergüssen nicht die geringste Chance! Wenn er nicht selber so reich wäre, würde ich sagen, er ist auf dein Vermögen aus.«
»Ach typisch Ellen, du musst immer etwas Unfreundliches sagen. Übrigens, lass Platz für mein Hochzeitskleid, es soll genau hier an dieser Stelle hängen. Und du darfst es mit mir zusammen aussuchen. Nur hoffe ich, dass es an unserem Hochzeitstag nicht so regnet wie heute.«
»Dein Kopf ist tatsächlich voll von Watte und Seifenblasen.« Ellen versuchte, sich aus Jasmins Griff zu befreien. »Hoffen wir auf einen goldenen Herbst, euch zu Ehren. Aber jetzt träume schön von deinem hübschen Prinzen und hör bitte damit auf, den Ring andauernd zu drehen. Du hast ihn schon eine ganze Woche am Finger, solltest dich inzwischen an ihn gewöhnt haben.«
Sie blies eine Kerze aus, nahm die andere in die Hand und folgte Lady Jasmin in das Schlafgemach. Nachdem die junge Lady in ihr Bett gestiegen war, bückte Ellen sich über sie.
»Einen kleinen Kuss darf dein altes Kindermädchen dir noch geben«, flüsterte sie, »auch wenn die Küsse eines anderen dein Herz betören.«
Lady Jasmin streckte ihren Mund zu Ellen hin.
»Egal, wie verheiratet und wie betört ich bin, mein altes Kindermädchen behält immer einen besonderen Platz in meinem Herzen.«.
Sie setzte einen Kuss auf Ellens Wange, zog die Bettdecke hoch bis zum Kinn, drehte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kopfkissen.
Ellen verließ leise den Raum. Außen an der Tür blieb sie kurz stehen und schüttelte den Kopf.
»Ellen?«, kam es plötzlich vom Bett.
»Ja?«
»Meinst du, meine Mutter hätte sich gefreut?«
»Sie hat sich immer gefreut, dich glücklich zu sehen, mein Kind.«
»Und, Ellen?«
»Was ist jetzt noch?«
Jasmin stützte sich auf einen Ellbogen und schaute sie an.
»Das Einzige, was mein Glück betrübt, ist, Kebworth Place zu verlassen. Ich liebe London, aber nichts kann Kebworth ersetzen.«
»Wenn du mit Hubertus verheiratet bist, lebst du in seinem schönen Haus. Zu Hause ist immer da, wo unsere Liebsten sind, Jasmin. Gute Nacht!«
Ellen drückte die Tür zu, strich eine verirrte Haarsträhne aus ihrer Stirn und steckte sie in ihre Haube. Sie lief auf Zehenspitzen zum Fenster am Ende des langen Ganges, zog den Vorhang zur Seite und runzelte die Stirn. Der Regen prasselte mit unveränderter Kraft gegen die Fensterscheibe, und Windböen schleuderten die Äste der Linden hin und her, die die Straße draußen säumten.
»Armes, mutterloses Kind«, sagte sie zu sich selber. »Ich wünsche, hoffe, bete, dass du glücklich wirst. Saudummes Wetter für die Reise. Die Räder werden im Schlamm stecken, noch bevor wir die Stadt verlassen haben.«
Das zusammengekrümmte Wesen zuckte ein letztes Mal. Danach lag es still auf dem Rücken. Ein Arm hing quer über dem Gesicht, ein Bein war über das andere gekreuzt, der Fuß des unteren Beins hing über die Kante des Bürgersteigs. Eine schattige Gestalt kroch an der Hecke entlang, danach folgten hektische Schritte, die immer leiser wurden und schließlich vom lauten Prasseln des Regens auf dem Pflasterstein übertönt wurden. Nachdem keine Schritte mehr zu hören waren, schlich ein Mann aus seinem Versteck in der Hecke. Er trug einen langen Regenmantel und eine Melone auf dem Kopf und sah aus, als ob er den Tag am Zahlschalter in der Bank verbracht und nicht eine Stunde lang im triefenden Eisregen in einer Hecke gehockt hätte. Er schaute nach rechts und nach links, huschte schnell über die Straße, beugte sich über das leblose Wesen und kritzelte etwas in ein Notizheft, das er unter seinem Regenmantel gehalten hatte. Immer wieder blickte er auf den stillen Körper, schrieb etwas nieder, blickte wieder auf, schrieb weiter. Schließlich steckte er das Heft in seinen Mantel, schaute sich noch einmal um und verschwand in die Nacht. Erst Stunden später schlenderte ein einzelner Wachtmeister die Straße entlang und richtete den Schein seiner Lampe auf den Haufen patschnasser Lumpen, der auf dem Gehweg lag. Er trat näher, nicht ohne mehrmals die Umgebung mit nervösen Augen durchschweift zu haben, stocherte mit seinem Stock in den Lumpen herum, erschrak kurz und stieß einen schrillen Pfiff mit der Pfeife aus, die er aus seiner Tasche geholt hatte. Schritte waren zu hören. Ein weiterer Wachtmeister eilte herbei.
»Was gibt es, Parsons?«
»Leiche, schon kalt, Herr Oberwachtmeister. Täter geflüchtet. Junger Mann, um die zwanzig. Messerwunde schräg übers Gesicht, Augen zertrümmert. Brustkorb wie immer. Todesursache vermutlich der Stich durchs Herz. Fellhams Handwerk, eindeutig.«
Er versetzte der Leiche einen leichten Stoß mit seinem Fuß und warf einen Blick auf den blutdurchtränkten Rücken.
»Stichausgang mitten im Kreuz. Klare Sache«, sagte der Oberwachtmeister. »Wir erledigen es sofort. Dieses Mal war Fellham offensichtlich nicht nach Abweichungen zumute, Kopf abschlagen, Füße abhacken oder so.«
Der Wachtmeister schüttelte mit dem Kopf.
»Erledigen ist gut. Besser wäre es, wenn wir dieses Scheusal endlich am Galgen verrotten sehen könnten, anstatt immer einen Schritt hinter ihm her zu sein.