Das goldene Kalb. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718490
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doch in Hörweite, in Gruppen zusammenstanden. „Doch nicht hier, Herr Holzboer“, sagte er.

      „Warum nicht?“ Wilhelm Holzboer folgte seinem Blick. „Sie sind ’ne alte Fiesematentchenmacher! Nu passen Se mal auf … ich han da ein Schreiben von der Friedhofsverwaltung jekriegt, wejen dem Grabmahl von der juten Luise. Diese Bunken wollen mir da doch wahrhaftig Vorschriften machen …“

      „Wenn ich Ihnen das kurz erklären darf, Herr Holzboer“, unterbrach ihn der Bürgermeister, bemüht, das unangenehme Gespräch so schnell wie möglich zu beenden. „Es ist nämlich so, daß es für unseren städtischen Fried hof eine Verordnung gibt, nach der die einzelnen Grabmäler … ich will nicht grade sagen, genormt sein müssen, aber doch immerhin eine gewisse Höhe und eine gewisse Breite nicht überschreiten sollen. Diese Verordnung erstreckt sich auch auf die Ausstattung des Grabes überhaupt, auf die Anpflanzung von Bäumen und dergleichen …“

      „Und für wat soll dat jut sein?“ fragte Wilhelm Holzboer dröhnend.

      „Man hofft auf diese Weise, dem Friedhof einen einheitlichen Charakter zu geben, es handelt sich dabei vor allem um ästhetische Gesichtspunkte, Herr Holzboer …“

      „Dat is ’n dolles Ding. Man darf also in diesem Kuhkaff nicht einmal beerdigt werden wie man will?“

      „Soviel ich weiß, gibt es in allen Städten und auch in den Landgemeinden ähnliche oder gleichlautende Verordnungen über die Gestaltung der Friedhöfe.“

      „Dann kann ich nur sajen … dat is ’ne schöne Demokratie, in der wir leben.“

      „Es tut mir sehr leid, Herr Holzboer, wenn Sie das so auffassen …“

      „Ja, so faß ich dat auf, Herr Bürjermeister. Ich muß Sie doch dringend bitten, da einzuschreiten. Schließlich is et doch ein kleiner Unterschied, ob da irjendeine Frau Piesepampel bejraben wird – oder eine Frau Luise Holzboer!“

      „Ganz gewiß, Herr Holzboer.

      „Und außerdem, dat soll ja auch ein Familienjrab werden, verstehen Sie, so ’ne Art Jruft, und dann muß et doch auf jeden Fall wat Imposantes sein, dat werden Se doch einsehen, wat?“

      „Ich verstehe Ihre Wünsche vollkommen.“

      „Dat freut mich. Dann lassen Se sich gleich mal von meiner Sekretärin den janzen Vorjang jeben, und jehen Se damit zum Friedhofsamt, und machen Se den Behörden ’n bißchen Dampf unter den Popo.“

      „Ich werde tun, was in meiner Macht steht …“

      „Dat möcht ich auch jehofft haben.“

      Wilhelm Holzboer tippte grüßend mit der Hand an seinen Zylinder, nahm die tiefe Verbeugung des Bürgermeisters schmunzelnd zur Kenntnis. Dann stapfte er durch den Schneematsch zu seinem Auto – einem schwarzen, Kapitän’ – in dem seine beiden Töchter inzwischen schon Platz genommen hatten.

      „Wo steckt denn der Junge?“ fragte er, als er sich ächzend in das Polster hatte fallen lassen.

      „Er ist schon zu Fuß nach Hause gegangen, Vater“, erklärte Juliane.

      „Dann fahren wir los … ich han ’ne Mordshunger.“

      *

      Das Haus, in dem die Familie Holzboer seit dem Jahre 1943 wohnte, war alt, düster und verbaut. Wenn man die Haustür öffnete, schlug einem ein modriger, unangenehmer Geruch entgegen, aber die Holzboers merkten es kaum noch. Nachdem Luise Holzboer auf alle mögliche Art versucht hatte, diesen Geruch zu vertreiben, hatten sie sich schließlich damit abgefunden.

      Als der junge Wilhelm in den dunklen Hausflur trat, mußte er daran denken, daß er als Kind fest davon überzeugt gewesen war, irgendwo in diesem Haus müßte eine Leiche versteckt sein. Er hatte oft das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden nach dieser Leiche durchsucht, von Hoffnung und Angst zugleich erfüllt, sie zu finden.

      Manchmal, wenn er nachts aufwachte, hatte ihn der Gedanke an diese Leiche, die irgendwo zwischen den Wänden modern mußte, nicht wieder einschlafen lassen. Aber es gab keine Leiche in diesem Haus, heute wußte er es. Trotzdem konnte er über seine kindlichen Ängste nicht lächeln, denn der Geruch erinnerte ihn gegen alle Vernunft immer wieder an Verwesung.

      Wilhelm war froh, daß niemand ihm entgegenkam. Er hängte seinen Mantel rasch an den Garderobenständer, lief die Treppen hinauf in sein Zimmer, eine ausgebaute Dachmansarde. Rückwärts warf er sich auf das weiß lackierte Eisenbett, zündete sich eine Zigarette an und schloß die Augen.

      Es war alles vorüber. Er versuchte, sich darüber zu freuen, daß alles vorüber war.

      Mutter war tot, damit mußte er sich abfinden, und es hätte ihm auch nichts genützt, wenn sie noch lebte. Sie hatte ihn doch nie begriffen. Vielleicht hatte sie ihn geliebt, ja, es war eigentlich sicher, daß sie ihn geliebt hatte, aber geholfen hatte sie ihm nie. Sie hatte es nicht gewagt. Sie hatte es nicht einmal verstanden, wenn er sich gegen irgendwelche Anordnungen des Vaters aufgelehnt hatte.

      Immer, wenn er an die Mutter dachte, die kleine, verarbeitete, ausgemergelte Gestalt, mit dem farblosen, trokkenen Haar, krampfte sich sein Herz vor Mitleid zusammen. Aber war sie wirklich zu bemitleiden? Jetzt, wo sie tot war, wo sie alles überstanden hatte, bestimmt nicht mehr.

      Und früher? Vielleicht hatte sie es grade so haben wollen, wie es war. Vielleicht war sie sogar glücklich dabei gewesen. Sie hatte niemals geklagt, aber sie hatte auch niemals gelacht. Nur manchmal, wenn der Vater plötzlich auf die Idee gekommen war, sie zu loben oder sich einen Spaß mit ihr zu machen, dann hatte ihr Gesicht aufgestrahlt. Vielleicht hatte sie ihn geliebt? Konnte man einen Mann wie den Vater lieben?

      Wilhelm hörte ein Knarren auf der Treppe. Unwillkürlich verbarg er seine Zigarette unter der hohlen Hand.

      Ohne vorher anzuklopfen öffnete die Tante die Tür und steckte ihren Kopf in Wilhelms Zimmer. „Papa is da, Jung … komm essen!“ – Mißbilligend schnüffelte sie den Zigarettenrauch.

      „Schon?“ fragte er zurück. Aber sie war schon wieder verschwunden, er hörte, wie sie die Treppe hinunterlief. Sie hatte Angst vor Vater wie alle in diesem Haus, alle außer ihm.

      Wilhelm drückte seine Zigarette in der Seifenschale aus, schwang die Beine vom Bett, stand auf und öffnete das Fenster. Er warf die Asche und den Stummel aus der Seifenschale in die Regenrinne, ließ das Fenster einen Augenblick offenstehen, um den Rauch aus dem Zimmer zu lassen.

      Er fürchtete seinen Vater nicht, er haßte ihn nur. Und das war viel besser so. – –

      Das Eßzimmer war der größte Raum in dem alten Haus, der einzige, in dem sich die Familie vollständig und regelmäßig zusammenzufinden pflegte. Die beiden schmalen, hohen Fenster gaben den Blick auf die Straße frei, eine Tür führte zur Küche, die andere zum Hausflur. Das Zimmer war wie alles im Haus, außer Christianes Stube, lieblos und geschmacklos eingerichtet. Die Holzboers schämten sich nicht, deutlich zu zeigen, daß sie nur hausten. Wilhelm Holzboer war es seit eh und je gleichgültig gewesen, wie der Schreibtisch aussah, an dem er arbeitete oder das Bett, in dem er schlief, und alles andere interessierte ihn nicht. Die anderen aber hatten das alte Haus immer nur als Provisorium aufgefaßt. Es hatte keinen Zweck, sich darum zu bemühen, es wohnlich einzurichten, es war und blieb ein alter Rumpelkasten. Vor ein paar Jahren war eine Zentralheizung eingebaut worden, weil die Arbeit mit all den Öfen nicht mehr zu bewältigen war, das war aber auch alles. Sobald das neue Firmengebäude stand, sollte ja sowieso ein neues Haus gebaut werden, ein Haus mit allen Schikanen, großen, gekachelten Badezimmern, einer Hausbar, einer Ölheizung, Perserteppichen und gotischen Madonnen. Die Frauen – Juliane, Christiane, ja, auch die Mutter und die Tante hatten sich oft stundenlang über das neue Haus unterhalten, das alte interessierte sie nicht.

      Als der junge Wilhelm eintrat, waren schon alle versammelt, und er bemerkte mit einem Blick, daß der Vater kurz vor einem seiner gefährlichen Jähzornausbrüche stand. Sein Kopf hatte sich gerötet, die Zornesader, die quer von der Stirn zur Nasenwurzel führte, war bedrohlich geschwollen.

      Einen Augenblick