Das goldene Kalb. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718490
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knipste, noch bevor sie zu ihrem Vater und ihrer Schwester zurücktrat. Sie holte ein blütenweißes Tüchlein aus ihrer schwarzen Handtasche, betupfte sich sehr vorsichtig und anmutig die Augenwinkel.

      Dann kam Wilhelm Holzboer junior. Lechner hatte ihn lange Zeit nicht gesehen, und er staunte, wie ähnlich der Junge seinem Vater geworden war – dieselbe kräftige, etwas gedrungene Figur, dasselbe runde, entschlossene Kinn, derselbe volle Mund, dieselbe starke Nase, ja, selbst die Augenbrauen schienen buschig zu werden wie die des Vaters. Das glatt zurückgebürstete blonde Haar, das unter dem Einfluß der feuchten Luft und des Windes schon wieder in seine natürlichen Wellen fiel, ließ dierunde, kindliche Stirn frei. Auch Holzboer junior zeigte keine Trauer, eher schien es Zorn, der ihn erfüllte, als er jetzt die drei Handvoll Erde in die Grube warf. Auf wen mochte er zornig sein? Auf seinen Vater? Auf die Tote? Auf Gott, der ihm die Mutter genommen hatte?

      Er trat zurück und stellte sich in eine Reihe mit seiner Familie.

      Da standen sie, die vier Holzboers, die Dynastie der kleinen süddeutschen Stadt Leuchtenberg. Man hätte erkennen können, daß sie von einem Fleisch waren, auch ohne ihre Gesichter zu sehen – sie hatten alle die gleiche charakterstische, sehr aufrechte Haltung, den gleichen steifen Nacken. Nebeneinander standen sie am Grab ihrer Mutter und ihrer Frau, ungebeugt und ohne sichtbare Trauer. Keiner von ihnen zeigte das leiseste Anzeichen von Schwäche.

      Lechner, der die ganze Zeit durch den heißen Atem seines Hintermannes im Nacken irritiert worden war, wandte sich um, murmelte ein Wort der Entschuldigung und stieß sich durch die dichte Menge ein paar Schritte zurück, hielt seine Kamera hoch über dem Kopf, um sie alle vier auf das Bild zu bekommen.

      Die Feuerwehrmusikanten hatten den Choral beendet, der Kapellmeister gab ein Zeichen, sie begannen ihre Instrumente wieder einzupacken. Die Menge geriet in Bewegung, die einen drängten zum Ausgang des Friedhofs, die anderen drängten nach vorne, zum Grabe. Langsam gingen sie an den Holzboers vorbei, drückten einem nach dem anderen die Hand, der Bürgermeister, der Justizrat Dr. Bayer, der Arzt Dr. Vogelsang, der Apotheker, jeder einzelne der Stadtbeamten, jeder einzelne der angesehenen Männer und Geschäftsleute der Stadt. Sie brachten den Holzboers ihre Huldigung dar, sie beugten sich vor der Macht des Geldes.

      Eduard Lechner schoß noch ein paar Aufnahmen, dann klappte er seinen Fotoapparat zusammen, verstaute ihn im Lederfutteral. Es war aus. Es gab nichts mehr aufzunehmen und nichts mehr zu beschreiben. Aber er hatte einen Artikel im Kopf. Wenn die Fotografien nicht gewesen wären, hätte er überhaupt nicht zur Beerdigung zu kommen brauchen, denn er hatte schon vorher gewußt, wie sich alles abspielen würde. Die Wahrheit durfte er ohnehin nicht schreiben, denn die wollte niemand lesen. Ganz abgesehen davon, daß er schon morgen auf der Straße läge, wenn er es wagen würde, Wilhelm Holzboer, den größten Inserenten des „Volksblattes“, in einem Zeitungsartikel anzugreifen und herauszufordern.

      Er würde die üblichen Phrasen dreschen müssen, von der sozialen Haltung der Verstorbenen und ihrer weiblichen Güte, von ihrer Großzügigkeit, würde mit rührseligen Worten die tiefe Trauer der Hinterbliebenen beschreiben müssen, er würde behauptén müssen, wie schmerzlich der unersetzliche Verlust dieser Frau sie alle getroffen hatte.

      Die Wahrheit durfte er nicht schreiben, und es hätte auch keinen Sinn gehabt, denn jeder kannte sie sowieso. Jeder wußte, daß Luise Holzboer nichts weiter gewesen war als das Echo ihres Mannes, liebenswürdig zu denen, die ihr Mann schätzte, noch ablehnender als er selber jenen gegenüber, die es gewagt hatten, sich ihm in den Weg zu stellen.

      Jeder wußte, daß Wilhelm Holzboer nicht der König der Stadt war, sondern ein Usurpator, daß er die Mittel, um sein Waren-Versandhaus „Jedermann“ zu gründen, aus einer üblen Manipulation gewonnen hatte. Er hatte es verstanden, ungeheure Mengen von Kleidungsstücken, aus schlechtem Material und schlecht verarbeitet, bis zum Moment der Währungsreform zu horten, um sie dann mit einem Schlag auf den Markt zu werfen, das ganze Gebiet südlich von München damit zu überschwemmen. Harte D-Mark waren der Lohn seiner „kaufmännischen Weitsicht“ gewesen.

      Aber wer hätte gewagt, ihm einen Vorwurf daraus zu machen? Das Waren-Versandhaus „Jedermann“ stellte eine Macht dar, die halbe Stadt lebte davon. Spielte es eine Rolle, mit welchen Mitteln es auf die Beine gestellt worden war?

      Eduard Lechner war der letzte, der es gewagt hätte, in das Geschäftsgebahren Wilhelm Holzboers hineinzuleuchten. Es ging ihn nichts an, und er hatte sich längst schon zu der Überzeugung durchgerungen, sich niemals um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen.

      Nach einem kurzen Zögern ordnete sich Eduard Lechner in die Reihe seiner Mitbürger ein, die darauf warteten, dem großen Wilhelm Holzboer ihr Beileid ausdrücken zu dürfen. – –

      Die gleichtönenden Beileidsworte, die man ihm zumurmelte, drangen nicht bis in Wilhelm Holzboers Bewußtsein. Mechanisch drückte er die Hände, die ihm gereicht wurden, seine Gedanken waren weit weg. Sie drehten sich, wie immer, um seine Geschäfte.

      „Juliane, Kind … halt misch den Bürgermeister auf! Ich hab’ noch mit ihm zu sprechen“, sagte er plötzlich. Seine Stimme klang laut und dröhnend. Er machte nicht den Versuch, seinen rheinischen Dialekt zu mildem, sondern übertrieb ihn noch, um den Einheimischen zu beweisen, wie wenig es ihm galt, daß sie ihn als „Zuagroasten“, als Fremden, anfangs erbittert bekämpft hatten und ihn auch heute noch innerlich ablehnten.

      Antonius Willkommner, Eigentümer des ersten Delikateßgeschäftes am Platze, der ihm grade die Hand gedrückt hatte, zuckte leicht zusammen und sah zu, daß er so rasch wie möglich davon kam.

      „Ich, Vater? sagte Juliane.

      „Warum nicht?“ In Wilhelm Holzboers Stimme war drohende Ungeduld, der Blick, mit dem er sie musterte, war unbarmherzig.

      Julianes Hände krampften sich zusammen, sie zitterte bei dem Gedanken, daß er es fertig bringen könnte, sich hier, in aller Offentlichkeit, über ihr lahmes Bein lustig zu machen.

      Aber es kam nicht dazu.

      „Ich geh schon, Vater“, sagte der junge Wilhelm, ihr Bruder, halblaut und löste sich von der Gruppe.

      „Wat hat er jesagt?“ – Wilhelm Holzboer dachte nicht daran, seine Stimme zu dämpfen.

      „Helm wird’s ihm ausrichten, Vater“, erklärte Juliane.

      „Das is jut.“

      Während Wilhelm Holzboer starr aufgerichtet dastand, Hände schüttelte und die Beileidsworte an seinem Ohr vorbeiklingen ließ, verfolgten seine Augen den Sohn, der sich entschlossen einen Weg durch die Trauergemeinde bahnte. Der junge Wilhelm, ging, so rasch er konnte, aber die Menge, die teilweise immer noch zögernd zwischen den Gräbern herumstand, behinderte ihn.

      Plötzlich verlor Wilhelm Holzboer die Geduld: „Kommt, Kinder … laßt uns gehen!“ sagte er laut und ohne sich um die Schlange der Leuchtenberger Bürger zu kümmern, die darauf warteten, ihm die Hand schütteln zu können, bahnte er sich seinen Weg zum Friedhofsäusgang.

      Unwillkürlich wich alles links und rechts zurück, so daß er unbehindert vorwärts drängen konnte. Seine Töchter folgten ihm, nach allen Seiten grüßend.

      Wilhelm Holzboer erreichte den Bürgermeister erst außerhalb der Friedhofstore, wo er in Begleitung des Stadtbaurates vor seinem Dienstwagen stand und auf ihn wartete. Der junge Wilhelm hatte ihm die Botschaft seines Vater schon ausgerichtet.

      „Bürjermeister!“ dröhnte Wilhelm Holzboer von weitem.

      Die beiden Herren trennten sich, und Bürgermeister Rollmann kam Wilhelm Holzboer beflissen entgegen. Juliane und Christine warteten in einigem Abstand auf den Vater, während Wilhelm sich unauffällig davon machte.

      „Bitte, verzeihen Sie vielmals, Herr Holzboer“, begann der Bürgermeister sofort, „es ist mir sehr unangenehm …“

      „Wat soll ich verzeihn?“

      „Diesen Zwischenfall mit den Kindern. Ich weiß, der Lärm war außerordentlich störend, und ich werde …“

      „Ah bah! Dat