– Pepi, benimm dich!
Wolf hatte aus nächster Nähe gesehen, wie die Todesangst in den Augen für den Bruchteil einer Sekunde kindlichem Staunen wich. Für ebenso lange erschlaffte auch der Hals, und das genügte Wolfs geübten Fingern, die richtige Stelle zu finden und den Griff auszuführen, auf den der vierte nur noch mit der Entleerung des Darms reagierte. Wolf mußte sich eingestehen, daß der junge Mann mehr psychologisches Einfühlungsvermögen bewiesen hatte als er selbst, der schon gewähnt hatte, es mit den größten Henkern der Kulturgeschichte aufnehmen zu können. Vielleicht war es eine Art Buße, daß er sich, als der Gefängnisdirektor den fünften aufrief, mit einer Frage an ihn wandte.
– Willst du ihn allein abfertigen?
In den fröhlichen Augen blitzte Argwohn auf, doch gleich darauf füllten sie sich mit Dankbarkeit und Glück. Der Junge schlug sich mit der rechten Hand auf den linken Bizeps und sagte mit heller Stimme:
– Aber immer, Meister. Wenn ich mir nur meine eigene Schlinge knüpfen dürfte?
– Wäre es nicht besser, ihn zu reißen? fragte Wolf zweifelnd. Am liebsten hätte er sein Wort zurückgenommen.
– Das wäre ihm gegenüber unfair, sagte der Junge zu seiner Überraschung, denn aufs Ruck-Zuck versteht sich keiner besser als Sie, Meister. Aber für mein Schischli garantiere ich.
– Was ist das? fragte Wolf verständnislos.
– Die Schimssa-Schlinge, sagte der Junge grinsend, so heiße ich nämlich.
– Heute können wir nicht herumexperimentieren, sagte Wolf streng, der gehört zur ersten Garnitur; wenn er sich losreißt, könnte es Stunk geben.
– Meister, sagte Schimssa eindringlich, ich hab’s drüben an den Abgefertigten ausprobiert, es ging wie geschmiert! Diese Offenheit überzeugte, und außerdem befand sich der fünfte, der nahezu hereingetragen werden mußte, sichtlich in einem apathischen Dämmerzustand. Und Wolf überschritt, ohne sich dessen vorläufig bewußt zu sein, seinen Rubikon und wuchs zum wahren Meister heran: Er wurde zum Mentor. Es konnte nicht ausbleiben, daß er sich unwillkürlich der klassischen Aufforderung bediente:
– Walte deines Amtes!
Dann schaute er zu, wie der Junge mit den Fingern flink die Höhe des letzten Halswirbels des fünften maß, um dann aus dem Hanfseil blitzschnell eine ungewöhnliche Schlinge mit exzentrischem Knoten zu knüpfen.
– Hopp, mit ihm auf den Bock! sagte er fröhlich zu den Gehilfen. Noch hatten sie den fünften nicht hochgehoben, da warf er ihm geübt die Schlinge über den Kopf und zog sie so zu, daß der Knoten unter dem linken Ohr hervorragte wie eine dicke Kokarde.
– Und ab die Post! fügte er hinzu und trat nach dem Dreifuß. Ein Knacken erscholl, als knallte ein Lineal. Der fünfte gab nur einen lauten Furz von sich, und als die Halswirbel nachgaben, dehnte er sich fast bis zum Boden; und ohne das geringste Zappeln schwankte er leicht am sich drehenden Strang. Aus der Gruppe der Zeugen ertönte dünner Applaus. Wolf sah aus dem Augenwinkel, daß auch der Doktor applaudierte. Trotz aller angeborenen Großmut kostete er zum erstenmal den bitteren Geschmack der Eifersucht und begriff sofort: Dieses Talent mußte für immer bei ihm bleiben, um ihm nie Konkurrenz machen zu können.
Ein intensiver, brennender Schmerz im Schoß weckte ihn, und gleich darauf, als er merkte, wieviel es geschlagen hatte, mußte er sich verdammt zusammennehmen, um diese
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Hure nicht umzubringen. Gott mochte wissen, woher man sie zu diesen Abenden herbeischaffte, immer neue und wieder neue lüsterne Gesichter, und ausgerechnet er – der Teufel mochte wissen, welcher dunkle Instinkt sie sein Amt herausspüren ließ – reizte sie bis zur Unberechenbarkeit auf. Je entschiedener er sie abwies und übersah – er wußte, er war geradezu krankhaft monogam, konnte es aber nicht ändern –, desto hartnäckiger verfolgten sie ihn. Diese hier hatte sich nicht gescheut, bei ihm einzudringen, um ihn auch ohne sein Wissen zu besitzen, und ihm war klar, wenn er sie verdrosch, würde er ihr nur zusätzliche Wollust bereiten, deshalb schmiß er sie schlicht und einfach hinaus.
Er warf einen Blick auf den Rokokonachttisch, wo neben einer Fotografie seiner Frau der Wecker stand. Erst halb zwei, aber er wußte, er würde nicht mehr einschlafen, und so trat er auf die Terrasse hinaus. Die Wiese senkte sich vom Jagdschlößchen zum Seeufer, wo noch das Feuer flackerte und Stimmen klangen. Er konnte sich ausrechnen, wer das war, und beschloß, das zu regeln, wozu er am Abend zu müde gewesen war.
Wolf hatte den Einfall gehabt, die bis dahin mit effektloser Elementarität durchgeführten Vollstreckungen auf einen bis zwei Tage in der Woche zu konzentrieren und mit Erholungspausen zu durchsetzen, nicht nur für den Vollstrecker, sondern auch für die Richter, Staatsanwälte, Verteidiger von Amts wegen und anderen Beamten, deren Teilnahme an Exekutionen zu ihrem Arbeitssoll gehörte. Natürlich hatte er seitens zahlreicher Interessenten tatkräftige Unterstützung gefunden, vor allem glücklicherweise diejenige des Doktors, wenngleich der dann – Wolf schrieb das seiner allzu hohen Position zu – keinen Gebrauch davon machte. Bald war auch ein passendes Gebäude ausgemacht worden, ein ehemaliges Jagdschlößchen und nachmaliges exklusives Hotel der Bourgeoisie, der konfiszierte Besitz eines der ersten Hochverräter, eben von einer Sondereinheit geräumt und ideal gelegen: fast unmittelbar vor den Toren der Metropole und zugleich im militärischen Sperrgebiet. Durch die »Aktion Schlößchen« hatte Wolf sich selbst bewiesen, daß er nicht nur ein gottbegnadeter Organisator, sondern auch der geborene Diplomat war: Sie brachte ihm viel Sympathie ein und ermöglichte es ihm, regelmäßig all jene gemeinsam anzutreffen, die er brauchte.
Deshalb konnte er jetzt, da in seinem Metier der erste ernstzunehmende Konkurrent aufgetaucht war, die nächtliche Wiese mit dem Gefühl eines Spielers überqueren, der einen Royal Flush in der Hand hält. Die Septemberluft war verhältnismäßig kühl, doch ihm, dem knapp Vierzigjährigen, vor Saft intellektueller und physischer Kräfte geradezu Überquellendem, war eher heiß. Daher ging er barfuß, den Tau genießend, und nackt, nur ein Handtuch um die Lenden geschlungen, nicht etwa aus Prüderie, sondern weil er wußte, daß völlige Nacktheit selbst den bedeutendsten Menschen des letzten Quentchens Würde beraubt. Deshalb empfand er es als das größte Manko, daß er es nicht einmal in dieser günstigen Zeit durchgesetzt hatte, entkleidete Delinquenten geliefert zu bekommen. Irgendein Idiot aus dem Institut für Rechtspflege hatte gegen ihn eine ganze Enzyklika verfaßt, mit Chroniken und alten Stichen dokumentiert, wo er nachwies, die Grenze zwischen Barbarei und Zivilisation bilde eben jenes Stoff-Fetzchen, das bei der Vollstreckung die Schamteile verdeckt. Leider! hätte er damals am liebsten aufgeschrien, gibt es noch die Grenze zwischen Männern und Hosenscheißern, die zwar jedem x-beliebigen den Strang verpassen, aber dann in Ohnmacht fallen, wenn der Gehängte einen fahren läßt! Natürlich hatte er nicht aufgeschrien, er war bereits zu der weisen Erkenntnis gelangt, es sei ersprießlicher, beleidigt zu werden, aber hinzurichten, als umgekehrt. Er hängte sie also weiterhin in leinenen Kutten, ohne jemals das unangenehme Gefühl loszuwerden, daß sie dadurch menschlichen Wesen mehr ähnelten als nötig. Er hatte zumindest durchgesetzt, daß sie ihm nicht mit Namen, sondern mit Nummern gemeldet wurden, doch auch dann ging er ihnen ohne Fisimatenten direkt an den Hals, um sie sofort nicht mehr als Ganzes wahrnehmen zu müssen. Das brachte ihm das Renommee eines phantastischen Könners ein, doch er, ungewohnt, sich etwas vorzumachen, wußte sehr wohl, daß er eine Achillesferse hatte. Und als er sah, wie dieser Jüngling Schimssa den komplizierten Knoten knüpfte und den Kunden dabei vom Scheitel bis zur Sohle musterte wie ein Schlächter, der wohlgefällig ein Schwein betrachtet, da wußte er noch genauer: Sieh, sein Paris, den Bogen erhoben!
Wolf