Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. Auf Klappstühlen saßen hier händchenhaltend die beiden, denen die Bewunderung der gesamten Öffentlichkeit galt: Staatsanwalt und Pflichtverteidiger, Prominente großer Prozesse, die der Epoche in der Rangliste der Geschichte eine Spitzenposition sicherten. Doch auch diese Männer von ehernen bürgerlichen Prinzipien hatten eine Schwäche, die sie menschlich machte. Sie waren ein Liebespaar und liebten einander so sehr, daß der Verteidiger, tief in die Augen des Partners blickend, in zwei Fällen noch vor dem Staatsanwalt für die Todesstrafe plädiert hatte.
Auch heute hatten sie die schönen Hetären den anderen überlassen und dafür ein romantisches Zusammensein zu zweit eingetauscht. Wolf störte sie nicht, im Gegenteil, sie schätzten diesen athletischen Mann, der ihrem gemeinsamen Werk so präzis die Krone aufsetzte und sie überdies oft durch seinen Intellekt überraschte. Obwohl sie ihn unter Umständen kennengelernt hatten, die für ihn höchst mißlich waren, hatten sie als erste seine Qualitäten entdeckt. Seither empfanden sie für ihn längst mehr als bloße Sympathie, ja sie hatten einmal sogar versucht, ihn für ihre Gefühlseinstellung zu gewinnen und ihm einen festen Platz in ihrer Gemeinschaft anzubieten. Wolf, trotz seiner Monogamie bis ins innerste Mark ein Mann und deshalb jeder Abnormalität abhold, war natürlich viel zu klug gewesen, um direkt abzulehnen. Er hatte ihnen in einer vorgetäuschten Beichte, die nach aufreizendem Geheimnis roch, eröffnet, er sei wie so viele Scharfrichter sexuell andersartig; zwar maskiere er das aus gesellschaftlichen Gründen – er sagte nicht: wie sie, aber sie verstanden schon –, brauche in Wirklichkeit jedoch weder die Partnerschaft einer Frau noch die eines Mannes: zum Geschlechtsakt werde ihm jede Vollstreckung, die, wie sie sehen könnten, wenn diese blöden Kutten nicht wären, zum Schluß den gesamten Vitalapparat der Delinquenten mobilisiere, eo ipso auch den sexuellen. Ihr Höhepunkt, ergänzte er vertraulich, sei dann ebenfalls der seine.
Das fesselte sie ungemein, sie duzten ihn seit jener Nacht und machten ihm nie wieder intime Anträge, obwohl er ihnen nach wie vor gefiel. Auch jetzt sahen sie ihn gern, er war eigentlich der einzige, vor dem sie sich nicht verstellen mußten, und schließlich brennt jede Liebe, selbst die absonderlichste, darauf, gesehen und beneidet zu werden.
– Willkommen, Friedrich, sagte der Staatsanwalt, schöne Nacht, nicht?
– Trinkst du einen Kognak mit uns, einen echten? fragte der Verteidiger und schickte sich an, ihm einzuschenken.
– Laßt euch nur nicht stören, sagte Wolf.
Er wußte, sie würden ihm auch für diese kleine Aufmerksamkeit Dank wissen. Er bückte sich nach der Flasche, die im Riedgras einer exotischen Blüte glich, und trank direkt daraus. Dann brachte er bedächtig, doch unerschütterlich sein Anliegen vor.
– Demnächst, sagte er, brauche ich hier ein Zimmer mehr. Ginge das?
– Willst du deine Alte mitbringen? lachte der Verteidiger.
– Diesen Jungen, sagte Wolf.
Das warf sie fast von den Stühlen.
– Du hast ..., stotterte der Verteidiger.
– Du willst dir hierher ..., stotterte der Staatsanwalt.
– Wer ist es? fragten beide drängend.
– Der mit dem Knoten, sagte Wolf, ich glaube, er hat auch euch gefallen.
Obwohl er die Reaktion erwartet hatte, überraschte ihn deren Heftigkeit.
– Der mit dem Hühnerkopf? rief der Verteidiger aus.
– Hast du seinen Teint gesehen? rief der Staatsanwalt aus.
– Du hast dich auf Grünzeug umgestellt? riefen beide aus, und Haß schwang darin mit.
– Freunde, sagte Wolf mit einem reizenden Lächeln, ich brauche diesen Schimssa nicht fürs Bett, sondern für die Arbeit.
Die Spannung löste sich, aber das Mißtrauen war noch nicht verflogen.
– Du hast gesagt, du willst ihn herbringen, sagte der Verteidiger.
– Ja, sagte Wolf, aus guten Gründen. Sagt mir, Freunde, meint ihr, daß unser Kampf sich dem Ende zuneigt und die Gesellschaft uns bald nicht mehr brauchen wird?
– Was fällt dir ein? wunderte sich der Staatsanwalt. Jeder Tag bringt uns neue Enthüllungen, wenn ich Banalitäten nicht scheute, würde ich sagen, daß an jedem Hals, den du abwürgst, neun neue Köpfe nachwachsen. Ich weiß nicht, wie es um dich steht, Mirda –
fuhr der Staatsanwalt fort, an den Verteidiger gewandt,
– ich jedenfalls bin überzeugt, daß die Anschläge auf die Friedensbemühungen unseres Volkes den Charakter eines Eisbergs haben, sichtbar ist kaum ein Zehntel, und auch da sind wir noch lange nicht durch, daraus –
fuhr der Staatsanwalt fort, an Wolf gewandt,
– geht logisch hervor, daß wir eigentlich erst am Anfang stehen, so daß du, Friedl, wirst von Glück reden können, wenn man dich dereinst in Pension gehen läßt, ich sehe, daß Mirda mir zustimmt, und wenn der Willi –
fuhr der Staatsanwalt fort, zu dem noch erleuchteten Fenster gewandt, von wo das wollüstige Stöhnen des genannten Richters wie das Krächzen eines Nachtvogels erklang, und faßte die Hand des Verteidigers fester,
– nicht jedesmal beweisen wollte, daß er immer noch imstande ist, all diese verschwitzten Nymphchen zu bumsen, und das stille Spiel der Sinne und des Intellekts vorziehen würde, wie wir und du es tun, dann müßte auch er dir das bestätigen!
Wolf hatte die ganze Zeit über versonnen die Kognakflasche herumgedreht, über deren dunkelgrünes Glas der Widerschein der erlöschenden Flammen hinzuckte, und das Lächeln umspielte immer noch seine Lippen.
– Und was geschieht, fragte er nun, wenn ich Grippe bekomme?
– Du? rief der Verteidiger. Da bekommt eher ein Ochse einen Herzinfarkt!
Im Dämmer leuchtete ein Gebiß auf, als der Staatsanwalt dieses treffende Beispiel seines Freundes würdigte. Wolf aber, ansonsten fast ängstlich auf Konformität bedacht, stimmte in seine Fröhlichkeit nicht ein.
– Ich frage im Ernst, sagte er.
– Im Ernst? fragte der Staatsanwalt, dann will ich dir im Ernst antworten. Wir warten einfach, bis du kuriert bist. Deine Kundschaft wird uns verzeihen, jedenfalls habe ich bis jetzt noch niemanden kennengelernt, der dich bestürmt hätte!
Nun konnte der Verteidiger sich über die Schlagfertigkeit des Freundes freuen.
– Ich hoffe, sagte Wolf, ihr faßt es nicht als impertinente Belehrung auf, wenn ich euch an ein Ereignis erinnere: Im Herbst 1899 blieb plötzlich das Herz des Wiener Bürgers Selinger stehen. Die Geschichte hätte keine Notiz davon genommen, wäre da nicht ein alarmierendes Faktum gewesen: Der kleine Blutstropfen, der die Koronararterie verstopft hatte, brachte es mit sich, daß der damals mächtigste Staat Europas ohne –
fuhr Wolf fort und blickte den Staatsanwalt vielsagend an,
– Scharfrichter dastand. Der Verlust war um so tragischer, als unmittelbar zuvor mehrere Delinquenten das Leben verwirkt hatten und Nichteinhaltung der Frist nach den damaligen pseudohumanitären Gesetzen letztlich zur Umwandlung der Strafe in lebenslänglichen Kerker geführt hätte; außerdem war es kein Geheimnis, daß es eben die zahlreichen Begnadigungen waren, mit denen der senile Kaiser Franz Joseph Selingers Gesundheit unterhöhlt hatte. Zur Erledigung eines der dringlichsten Fälle, der Hinrichtung der Kindsmörderin Juliane Hummel, wurde deshalb zu Neujahr 1900 der wichtigste Anwärter auf das freigewordene Amt, der damals noch legendäre Prager Henker Wohlschläger, berufen. Durch sein Verdienst begann jedoch das eben erst ausgeschlüpfte Jahrhundert, das dem Scharfrichteramt die Achtung des Staates und die Sympathien der Volksmassen wiederzugeben versprach, mit einem –
fuhr