Die Henkerin. Pavel Kohout. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pavel Kohout
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711461372
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widerstanden. Dreimal zogen die Pferde, durch Geschrei und Peitsche angetrieben, mit aller Kraft an, und dreimal riß sie der Widerstand zurück. Man bemerkte nur, daß die Arme und Beine des Delinquenten sich unverhältnismäßig verlängerten, aber er lebte immer noch, und man hörte seine Atemzüge, röchelnd wie der Blasebalg einer Schmiede. Die Scharfrichter waren bestürzt; der Pfarrer von Saint-Paul wurde ohnmächtig, der Gerichtsschreiber verbarg sein Gesicht in seinem Gewand, und in der Volksmenge vernahm man ein dumpfes Murmeln, wie der Vorläufer eines Sturmes. Als darauf Herr Boyer, der Wundarzt, nach dem Stadthaus hingeeilt war und den Richtern angekündigt hatte, daß die Zerreißung nicht würde stattfinden können, wenn man den Anstrengungen der Pferde nicht durch Zerschneiden der großen Sehnenstränge zu Hilfe käme, erfolgte die Genehmigung dazu. Man hatte kein Messer zur Stelle; André Legris hieb also mit der Axt in die Verbindungen der Arme und Schenkel des Unglücklichen. Fast in demselben Augenblick wurden die Pferde wieder angetrieben; ein Schenkel löste sich zuerst, dann der andere, dann ein Arm. Damiens atmete noch immer. Endlich, als die Pferde noch an dem einzigen gebliebenen Glied rissen, öffneten sich seine Lider, und seine Augen kehrten sich gen Himmel; der unförmige Rumpf war zum Sterben gelangt.«

      Im Kommentar forderte Wolf die Schüler auf, die Beanspruchung und Mühsal bei der geschilderten Vollstreckung zu beachten und in der Annahme, die heutigen Exekutionen seien voll mechanisiert, nicht die physische Kondition zu vernachlässigen. Die Gesellschaft, sagte er, spare zwar nicht an Mitteln, um auch die Vollstrecker die Früchte der Technik genießen zu lassen, doch ein qualitativ noch so hochwertiger Strick und ein noch so durchdacht gestalteter »Aufhänger« ändere wenig an der Tatsache, daß der Kunde in der Regel aufsässig sei. (Im Text lapidar: »Der Henker siegt, aber es gibt Murks!«) Von da ab steuerte Wolf konkret Stellung und Aufgabe der Vollstrecker in der Welt im allgemeinen und in unserer Gesellschaft im besonderen an. Er führte aus, der Staat nehme sich ihrer sowohl während der produktiven Jahre an (Geheimhaltung, Prämien – das sogenannte »Halsgeld«, Erholung, Unfallversicherung), als auch im Alter (amtliche Namensänderung und besondere Rente, aus dem Halsgeld errechnet). Zum Schluß wollte Wolf an seine ersten Schüler appellieren, sich klarzumachen, daß sie durch Ablegen des Eides (einem Pendant zum hippokratischen), der sie verpflichte, jeden angelieferten Kunden ohne Ansehen von Hautfarbe, Sprache, Glaubensbekenntnis, Überzeugung und Position zu exekutieren, zu Hütern der besten Traditionen des Metiers werden würden, das sie aus schöpferischer Eigeninitiative zu neuer Blüte bringen sollten. Mit der Aufforderung, niemals zu vergessen, daß sie Vollstrecker neuen Typs seien, die der ganzen, bislang geteilten Welt eine lichte Perspektive zu geben hatten, schloß der Text.

      Es war eine weise, gescheite, eindringliche und wirkungsvolle Rede. Trotzdem wurde sie nicht gehalten.

      Er stand ihnen gegenüber, keines Wortes fähig, plötzlich wie von der Anstrengung des langen Weges ereilt, der damals, ja, er gestand es sich ehrlich ein, unter der Laterne mit dem schmorenden Körper begonnen hatte, und gleich darauf übermannte ihn – der unbewegt blieb, wenn er weinenden Schönen das Genick brach, Rührung, weil er sie zum erstenmal alle zusammen sah, nicht länger nur sieben unbekannte und unbedeutende Geschöpfe mit unterschiedlich banalem Schicksal, sondern jetzt schon seine Schule, eine Tat, die ihn endlich überleben würde, da den Zeugen der anderen – undankbare Kehrseite des Berufs! – seine eigene Hand das Lebenslicht ausgeknipst hatte; und da bedeutete ihnen Wolf, ohne Schimssas Befremden zu beachten, ihre Plätze einzunehmen.

      – So, sagte er ungewohnt freundlich, fast zärtlich, während er Schimssa ein Zeichen gab, sogleich an die organisatorischen Dinge heranzugehen, so –

      wiederholte er und räusperte sich seinerseits, um ihnen allen zu verbergen, daß die Programmänderung auf seine Ergriffenheit zurückging,

      – Kinder, packen wir’s

      19

      – an!

      III

      Am Freitag, dem 21. Dezember, kam auf dem Steinbock der Winter angeritten. Noch am Donnerstagmorgen hatte es so ausgesehen, als wollte der außergewöhnlich matschige, neblige, penetrante Herbst dieses Jahr kein Ende nehmen. Doch am Abend hörte es auf zu regnen, in der Nacht sank das Quecksilber auf zwei Grad unter Null, und der Morgen meldete sich mit den Sirenen der Krankenwagen, welche die ersten Frakturfälle aufluden. Gegen elf Uhr begann es zu schneien, zunächst Daunen-, dann Tauben- und schließlich Gänsefedern.

      Als die Klasse aus der Kantwams zurückkam – es hatte Fischsuppe und Truthahn gegeben und für jeden einen halben Weihnachtsstollen zum Mitnehmen – konnte man schon Schneebälle werfen. Sie mußten sich jedoch die Lust vergehen lassen, denn ab zwei unterrichtete Wolf, und der duldete keine Unpünktlichkeit. Er strafte niemals sofort, aber der Nachzügler konnte Gift darauf nehmen, daß er beim Durchnehmen der Streckbank, der spanischen Stiefel oder des Folterns mit Wechselstrom, seit dem algerischen Krieg »Telefon« genannt, als Figurant würde herhalten müssen und eine Drehung, einen Keil oder zwanzig Volt zusätzlich zur Schulnorm abbekommen würde. Sie begnügten sich also damit, auf dem gefrorenen Untergrund zu »schlittern«, bis der weiße Schnee in Geysiren aufstob wie das Kielwasser eines Schiffes.

      Vor Beginn der Stunde stand Lízinka am Fenster des Kafka und knabberte an ihrem Weihnachtstollen, den sie sinnend an die Lippen hielt wie einen riesigen Lutscher. So wurde sie von

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