Die Henkerin. Pavel Kohout. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pavel Kohout
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711461372
Скачать книгу
Sekundenbruchteil die Zeit stehen, und er wurde mitten im Schritt in das lebende Bild um Lízinka hineingezogen; selbst noch unbemerkt, ließ er den durchdringenden Blick von Gesicht zu Gesicht schweifen, während er Namen, Lebenslauf und Charakterzüge seiner künftigen Schüler rekapitulierte:

      František (15), ebenso gutmütig wie dick, IQ an der unteren Durchschnittsgrenze, trotz seiner Obesität anstellig; Hobby: Gewichtheben; Vater: beliebter Gefängnisaufseher, dessentwegen Rückfalltäter sich auf den Knast freuten; hatte ein paarmal Kunden auf den Hängeboden zu Wolf gebracht und selbst um Aufnahme des Sohnes ersucht, wobei er erstaunlicherweise von dem gleichen Gedanken ausging, daß es sich um einen Beruf wie jeden anderen handelte, der eine Ausbildung verlangte; die Aufnahme war deshalb zugleich eine Belohnung für den sittlichen Idealismus des Vaters, der nicht nur auf die Interessen des Sohnes, sondern auch auf diejenigen der Gesellschaft bedacht war.

      Die Zwillinge (15), eineiig und nur durch den Scheitel unterscheidbar, den die Grundschullehrer sich ausbedungen hatten; übereinstimmender IQ mittlerer Norm; Hobbies: Bergsteigen und Segeln, also Arbeit mit Seil und Knoten; Väter: ein Bezirksrichter in K. (de jure) und ein Bezirksprokurator in K. (de facto); Petr und Pavel, von Dozent Schimssa durch irgendwelche Beziehungen ausfindig gemacht, hatten bei der Prüfung die Vivisektion eines Hundes zwar dilettantisch, aber mit solchem Elan absolviert, daß Wolf nicht nein zu sagen vermochte.

      Albert (16), sein Favorit; Vater: ein sadistischer Mörder, den Wolf einen Monat vor der Geburt des Jungen exekutiert hatte; Mutter: hatte als einziges seiner Opfer die Vergewaltigung überlebt, als bigottes Bauernmädchen die Schwangerschaftsunterbrechung abgelehnt, das bucklige Kind jedoch als Strafe Gottes angesehen und sich im Stall die Pulsadern aufgeschnitten. Wolf griff in das Leben seiner Kunden grundsätzlich nie länger ein, als für die wenigen Sekunden, in denen er es ihnen nahm, aber hier hatte er eine Ausnahme gemacht, die sein pädagogisches Talent bestätigte: Er hatte von fern verfolgt, wie der Junge in Kinderheimen tapfer gegen sein Schicksal ankämpfte, den bösen Streich der Natur wettzumachen, widmete er sich geradezu asketisch der Körperertüchtigung; der Buckel wurde zwar nicht kleiner, doch bald wagte niemand mehr, über ihn zu lachen: der kleine Bucklige hatte stählerne Muskeln. Nachdem Wolf sich über IQ (101) und Hobby (Säbelfechten und Geschichte) informiert hatte, faßte er einen bestimmten Plan, und Albert war praktisch ohne Prüfung aufgenommen worden.

      Diese vier waren ungefähr genauso alt wie Lízinka. Blieben noch zwei ältere.

      Simon (19) war in der sechsten, siebenten und achten Klasse (IQ 17) durchgefallen; die Wiederholung der neunten wurde ihm aufgrund von Interventionen und Protesten erlassen; protestiert hatten die Lehrer, denen er für jede erteilte Fünf strangulierte Katzen an die Türklinke hängte; interveniert hatten einflußreiche Repräsentanten der Justiz, aber auch der Historiographie: Simon stammte als einziger von Henkern ab; sein Urgroßvater war der berühmte Karl Huß (aus dem einfach »s« hatte er ein »ß« gemacht, um nicht für einen Nachkommen des Reformators gehalten zu werden; seine Nachkommen machten es umgekehrt, um nicht für Schergen der Antireformation angesehen zu werden), der nach dem unseligen Dekret Josephs II. Feldscher und Kustos der Antikensammlung des Fürsten Metternich geworden war; zu seinen Freunden gehörte auch J. W. von Goethe, der sich mit ihm vor allem über den ursprünglichen Beruf unterhielt; der Vater hingegen hatte Simons Personalakte anfangs insofern belastet, als er sein Amt, noch vom demokratischen Staat verliehen, im Sold der Okkupanten (diesmal mit »ss«) ausgeübt hatte, wofür er nach der Okkupation vor Gericht gestellt worden war; auch ihn hatte der berühmte Vorfahr gerettet – der Justizminister war Historiker – sowie der Verteidiger, der eine vom Henker Mydlář, einem aufrechten Tschechen und Protestanten, vor der Hinrichtung der siebenundzwanzig böhmischen Standesherren anno 1621 gemachte Niederschrift vorgelegt hatte: »Und hätt ich mich auch widersetzet, meine blutige Pflicht zu thun, hätten dan nit wol zehen andere Meister-Scharfrichter sich gefunden, so an meiner Statt ohn Bedenken die Execution vollzogen? Nicht ein Stund länger wär die Vollbringung dieser Execution hinausschoben worden und außer dem, wer weisz, wie grausam fremde Henker verfahren wären mit die unglücklich Böhmischen Herren und hätten womöglich durch Ungeschicklichkeit den letzten Augenblick von dero Leben ihnen vergället.« Am Beispiel des Doktors Jesenius, dem als Intellektuellen laut Urteil vor der Enthauptung die Zunge ausgerissen werden mußte, was Mydlář besonders sanft tat, hatte der Verteidiger bewiesen, daß sich in ähnlichen Situationen die Anwesenheit eines Landsmanns und Glaubensbruders als wahrer Segen erweist; trotzdem hatte sein Mandant lebenslänglich bekommen und mußte fast fünf Jahre absitzen, bevor man ihn unter Ausnutzung einer Amnestie (mit einem einzelnen »s« aber mit sämtlichen Gliedern und Rechten) in den Ruhestand bugsiert hatte. Indem Wolf Simon nach außen hin nur der erwürgten Katzen wegen aufnahm, machte er in aller Stille das Unrecht wieder gut, das am gesamten Scharfrichtertum verübt worden war: Selbst barbarische Völker hatten nie den Mann gestraft, der nicht zufällig der Arm der Gerechtigkeit genannt wurde; sie fällten höchstens den Kopf, der diesem Arm den Befehl erteilt hatte. Überdies hatte Wolf auch einen triftigen persönlichen Grund.

      Der letzte von den Jungen, Richard (17) – er hatte zwei Jahre im Sanatorium verloren, war aber wieder völlig fit –, verfügte über so gut wie sämtliche Vorzüge: einen anständigen IQ, vielseitige Interessen, eine hochgewachsene, schlanke und durchtrainierte Gestalt, als hätte der bekannte Diskuswerfer seine Mutter geschwängert, und war zu allem Überfluß der Sohn eines Fleischers! Und doch verdankte ausgerechnet er seine Aufnahme einzig und allein

      15

      Lízinka Tachecí.

      Der Zufall, der auf dem Welttheater und im privaten Bereich so oft Regie führt, war auch der Urheber einer Begegnung, die viele Jahre nach dem Erlöschen des nächtlichen Lagerfeuers vor dem Jagdschlößchen stattfand. Die Kunden, damals von Wolf am Vorabend exekutiert, waren längst für unschuldig befunden und posthum rehabilitiert worden. Falls er zu Recht erwartet hatte, sich auch jene vornehmen zu dürfen, die den Irrtum verschuldet hatten, so wurde er schmerzlich enttäuscht; sie hatten sich einfach aus dem Staub gemacht, und niemand – höchstens die Hinterbliebenen – forschten ihrem Verbleib nach. Die Welt – wie auch Meldungen aus dem Ausland vermuten ließen – war mit einemmal geradezu pedantisch engstirnig, von der Todesstrafe wurde nachgerade im gleichen Ton gesprochen wie von Geschlechtskrankheiten; da mußte einer schon Weib und Kinder zu Tode prügeln und deshalb unter der arbeitenden Bevölkerung des Bezirks einen Aufruhr entfesseln, damit man ihm widerstrebend die Hanfkrawatte verordnete. Wolf, Schimssa und Karli arbeiteten mitunter nur einmal im Quartal, und daß sie ihren Platz im System weiterhin behaupten konnten, verdankten sie ausschließlich der Unterstützung geheimer Sympathisanten im Justiz- und im Polizeiapparat. Aber wie lange noch? Vor Augen stand ihnen der eben erfolgte Rücktritt von Albert Pierrepoint, der einst mit vierundzwanzig Jahren nach seinem Vater und seinem Onkel königlicher Scharfrichter von Großbritannien geworden war. Obwohl er 433 Kunden und 17 Kundinnen auf dem Konto hatte – davon siebenundzwanzig an einem einzigen Tag abgefertigte Kriegsverbrecher –, mußte er mit seiner Demission einer schmählichen Entlassung im Gefolge des geplanten Gesetzes über die Abschaffung der Todesstrafe zuvorkommen. Es ist deprimierend, lesen zu müssen, wie dieser Gigant, der »lächelnde Gentleman«, der die Zigarre nur während einer Vollstrekkung weggelegt und auch dem achtfachen »Säuremörder« John Haigh das Genick gebrochen hatte, plötzlich eifrig verkündete: »Die Todesstrafe schreckt niemanden ab«, und »die innere Stimme, eine Stimme von oben, die mir einst gebot, diese Arbeit zu verrichten, sagt mir nun – genug!«

      Über all dies sann Wolf in der Straßenbahn nach, die ihn zu einem der treuesten Freunde fuhr. Wolf kannte weder dessen Beruf noch richtigen Namen, doch daß er seit Jahren mit Sondergenehmigung indes ohne Sonderauftrag, immer wieder auf dem Hängeboden erschien, zeugte von der Wichtigkeit und Stabilität seiner Position. Eine von Wolfs Maximen lautete, nie Dingen nachzuforschen, die geheim bleiben wollten; seine Hand hatte schon so manchen Hals stranguliert, dessen Besitzer zuviel gesprochen hatte. Privat vermutete er in dem von allen ›Doktor‹ genannten Mann den Sekretär einer bedeutenden Persönlichkeit, und somit bedeutender als diese, denn Persönlichkeiten lösten einander damals so häufig ab wie die Figuren einer Turmuhr, während er blieb. Oft verschafften sich durch Protektion oder Bestechung potentielle Nekrophile Zutritt zu den Vollstreckungen. Wolf hatte begonnen, den Doktor in anderem Licht zu