fuhr Wolf fort und blickte nunmehr beide vielsagend an,
– war ihr das Glück in diesem schicksalhaften Moment hold, da sich unverhofft der Wiener Cafetier Josef Lang meldete, wohnhaft in Simmering, Geystraße 5, den sein aufgeklärter Vater anno 1868 zur letzten öffentlichen Hinrichtung in Wien mitgenommen hatte. Das schöne Wetter, der Andrang des sonntäglich herausgeputzten Publikums, allüberall Wurstverkäufer, Drehorgelspieler und andere Attraktionen, das feierliche Zeremoniell und vor allem die Hinrichtung des Raubmörders Ratkay als solche, noch durch das klassische Herabstoßen von der hohen Leiter, machten auf den dreizehnjährigen Knaben einen unauslöschlichen Eindruck; er fühlte sich schon damals für diese erhabene Aufgabe vorbestimmt. Als er dann am 27. Februar 1900, als reifer Mann, das Dekret entgegennimmt, das ihn zum k. k. Scharfrichter für »die Erzherzogtümer Österreich ob und unter der Enns, die Herzogtümer Salzburg und Steiermark, die gefürstete Grafschaft Tirol mit Vorarlberg, die Herzogtümer Kärnten und Krain, die Markgrafschaft Görz und Istrien mit Triest, das Herzogtum Schlesien, das Königreich Dalmatien, das Königreich Galizien und Lodomerien mit dem Großherzogtum Krakau sowie das Königreich Kroatien und Slavonien« ernennt, empfindet er die gleiche Last der Verantwortung wie sein Monarch. Und als er am 3. März 1900 zu seiner ersten Amtshandlung, der Hinrichtung des Zigeuners Held antritt, denkt er in erster Linie an die anwesende Sachverständigenkommission, angeführt von Professor Haberda, in dessen Gesicht noch die Todeskrämpfe der Hummel nachzucken. »Ich wünsche, Lang«, hat er am Vorabend kompromißlos zu ihm gesagt, »daß es für ihn in längstens einer Minute erledigt ist!« Die Literatur wimmelt von Schilderungen der letzten Nacht von Verurteilten, jeder Schriftstellerneuling vergießt eine Träne über das aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßene Individuum, aber wo –
rief Wolf aus und blickte visionär vor sich hin,
– ist der neue Shakespeare, der die erste Nacht eines Scharfrichters beschreibt? Wie er mit den Gehilfen unermüdlich bald diesen, bald jenen Griff probt, wie er sich alle berühmten Fehlschläge ins Gedächtnis ruft, zum Beispiel den faux pas von – wiederum! – Prag, wo man einen gewissen Václav Slepička in die Versenkung hinabließ, ohne ihm den Kopf in die Schlinge gesteckt zu haben, so daß er sich beide Beine brach und erst nach erfolgter Heilung gehängt werden konnte. Solche Autoren gibt es nicht, und auch hier muß schließlich der Scharfrichter selbst einspringen, so etwa Lang, der später – ich zitiere nach Dorfer und Zettel – diese klugen Worte schreibt: »Einmal hab ich so ein Buch gelesen, da war der Mensch, wie wenn er durchsichtig wär, aber schön bunt war des, und da war alles drauf abgebildet, auf der einen Seiten die Muskeln, auf der anderen Seiten die Innereien, der Magen, Speiseröhre, Luftröhre und so, richtig schön war des. Da sieht man erst, was der Mensch für ein Meisterwerk is, wie weise die Natur is, daß so ein kompliziert gebauter Mensch auch richtig funktionieren kann. Und dann hab ich denken müssen: Siehst, Peppi, und du, du hast das Recht, die Macht und das Können, dieses Wunderwerk der Natur außer Gang zu setzen.« – Dann bricht also der Morgen an, ein trüber für den Zigeuner Held, aber ein strahlender für Josef Lang, als er vor Professor Haberda hintritt, die Vollstrekkung des Urteils melden und bescheiden hinzufügen darf: »In fünfundvierzig Sekunden.« Nun kann selbst der strenge Haberda nicht anders, als ihm auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: »Bravo, Lang!« Da ahnt er noch nicht, daß Josef Lang wenig später in Rovereto den vierfachen Mörder der Großrubatscher in zweiundvierzig Sekunden abfertigen wird und kurz danach in Lemberg den Theodor Bibierski in glatten vierzig, was auf Jahre hinaus europäischer Rekord bleibt, bevor –
fuhr Wolf mit nicht geringer Bescheidenheit fort,
– eine neue Generation von Scharfrichtern auch diesen Rekord bricht. Ungebrochen ist indessen das Andenken an den Mann, der sich seinen ehrlichen Beruf in sein Messing-Türschild eingravieren ließ und schließlich für den Wiener Gemeinderat kandidierte mit der Empfehlung, er »erfreut sich der Sympathie des ganzen XX. Bezirks und verfügt außerdem über die nötige Zeit«. Diese Geschichte habe ich euch erzählt, Freunde, um euch daran zu erinnern –
sagte Wolf und blickte jetzt dorthin empor, wo von Osten nach Westen langsam, aber unerbittlich die blauschwarze Sommerkarte des Himmels vorüberzog,
– daß der Herzinfarkt auch Scharfrichter nicht verschont. Und sollte er eines schönen Tages bei mir anklopfen, was wird dann aus euren wunderschönen Plänen?
– Da ist ja noch Karli ... sagte der Staatsanwalt verunsichert.
– Karli, sagte Wolf mehr bedauernd als verächtlich, ist ein Typ, der seinen Zug um fünf Jahrhunderte verpaßt hat, den kann ich mir als Provinzhenker vorstellen, der seinen Kunden beim Köpfen eher zu Tode drischt. Nein, nein, dadurch –
fuhr Wolf fort und stand auf, um seinen Worten größeren Nachdruck zu verleihen,
– wird unser Problem nicht aus der Welt geschafft, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, daß dieser Eisberg plötzlich zur Gänze emportaucht. Dann entgleitet vielleicht alles unseren Händen, wenn auch Kreis- und Bezirksjustizbehörden ihren Anteil fordern, und wer soll das alles schaffen? Wollt ihr Henker per Inserat suchen? Was für ein Niveau werden die haben? Und was wird das Ausland dazu sagen?
Dann herrschte Stille, unterbrochen nur vom Rufen eines Käuzchens und dem Gekreisch der Konkubinen des Richters, die ein übers anderemal einen von ihm herbeigeführten Orgasmus vortäuschten. Wolf wußte mit dem Fingerspitzengefühl eines Apothekers, daß jede zusätzliche Silbe die Kraft seiner Mitteilung geschwächt hätte. Er trank noch einmal lange, stellte die leere Flasche zwischen die Stengel des Riedgrases und fügte liebenswürdig hinzu:
– Gute Nacht.
– Warte! rief der Staatsanwalt, genau wie Wolf es vorausgesehen hatte, wenn du schon A gesagt hast, mußt du auch B sagen! Wenn dich der Schlag trifft, dann reißt uns dieser Bengel auch nicht heraus, ich möchte nicht miterleben, wie er das allein schaffen soll!
– Nicht nur Weise, entgegnete Wolf, mit dem Präzisionsgefühl eines Apothekers Ironie verabreichend, sondern auch Scharfrichter fallen nicht vom Himmel. Dem Karli die primitivsten Begriffe etwa aus der Physiologie oder gar der Psychologie beibringen zu wollen, hieße Perlen vor die Säue werfen. Wohingegen dort –
fuhr Wolf fort und deutete mit dem Finger ans andere Ufer des Sees, wo über dem Wald wie leichter Dunst der Lichtschein der nahen Großstadt hing,
– der Junge es vollauf verdient, schon jetzt einen erfahrenen Lehrer zu bekommen, damit er nicht von der Pike auf beginnen muß wie wir.
– Soviel wir wissen, lachte der Verteidiger, hast du von der Laterne auf begonnen!
Die letzte Flamme erlosch, die Feuerstelle gloste matt, und der Mond, aus dem Schloßpark emporgestiegen, glich einem türkischen Richtschwert; selbst in dieser schlechten Beleuchtung war zu sehen, wie Wolf erbleichte.
– Mirda, sagte der Staatsanwalt rasch und grub die Nägel in die Handfläche des Verteidigers, bis dieser schwach aufstöhnte, sei nicht böse, Liebes, aber Späße sind jetzt unangebracht. Wie stellst du –
fuhr der Staatsanwalt an Wolf gewandt fort,
–