«Und, bist du schon aufgeregt?»
Ihr Vater schaute sie lächelnd an und knetete dabei ihre Hände, die trotz der gefütterten Handschuhe ganz kalt waren. Er trug einen dunklen Frack und ebenfalls einen Pelzmantel. Außerdem hatte er dafür gesorgt, dass Huxley jedem von ihnen einen heißen Stein unter die Füße gelegt hatte.
Johann Huvstedt war ein Mann in den besten Jahren mit glatt rasiertem Gesicht und kurz geschnittenen Haaren mit langen Koteletten, wie es zurzeit Mode war. Lena wunderte sich stets, warum er nach dem Tod ihrer Mutter keine neue Gefährtin gefunden hatte. Doch das wollte er nicht, wie er immer wieder beteuerte. Er hatte ihre Mutter zu sehr geliebt.
Um wie viel schwerer musste es ihm nun fallen, dachte Lena, seine einzige Tochter an einen anderen Mann zu verlieren – womöglich einen, der sie in ein Tausende Meilen entferntes Reich entführte.
«Ihr werdet ein wunderbares Paar abgeben heute Abend, du und Sir Edward», erklärte er tapfer und tätschelte Lena die Wange.
Heute Abend. Das bedeutete, ihr Vater würde nicht von ihr erwarten, dass sie sich auf diesen Mann festlegte. Lena erwischte sich dabei, dass sie nervös an ihrer Unterlippe nagte, und stellte diese Unart gleich wieder ein, als der Diener ihr beim Aussteigen half.
Es hatte aufgehört zu schneien, und doch war es klirrend kalt. Im Lichtschein Hunderter Feuerkörbe, die den breiten Zufahrtsweg zum Club erleuchteten, tastete Johann Huvstedt nach Lenas rechter Hand. Dem Kutscher gab er den Auftrag, sie spätestens gegen zwei Uhr morgens wieder abzuholen.
Mit einem Mal erschien ihr Vater nervöser als sie selbst zu sein. Offenbar wurde ihm bei Anblick all dieser jungen Männer und Frauen, die herausgeputzt wie festlich dekorierte Weihnachtsbäume in Begleitung ihrer Eltern zum Hauptportal strömten, schlagartig bewusst, was es bedeutete, mit seiner Tochter hierhergekommen zu sein.
Im Innern der marmornen Empfangshalle überprüfte ein weiterer Diener ihre Einladungskarte und nahm ihnen die Mäntel ab. Ein anderer eskortierte sie treppauf in den großen Ballsaal, wo ihnen im Vorbeigehen von emsigen Bediensteten Champagner serviert wurde. Hunderte von Kronleuchtern mit unzähligen Kerzen aus Bienenwachs erleuchteten den riesigen Spiegelsaal. Hier würden die Gäste nach der Begrüßung durch die Königsfamilie an festlich dekorierte Tische geleitet, die rund um die Tanzfläche aufgebaut worden waren. Dann würde zunächst ein kleiner, aber feiner Imbiss serviert werden, bevor man gegen 23 Uhr in der Halle vor dem Saal das große Buffet eröffnete. Leise Orchestermusik begleitete die Geräuschkulisse schwatzender Menschen, die mit dem Eintreffen von immer mehr Gästen weiterhin anschwoll.
Lena fühlte sich inmitten der gaffenden Menge wie auf einem Präsentierteller und bewunderte dabei nicht weniger staunend die edlen Roben ihrer Mitstreiterinnen, die wie sie selbst ausnahmslos ausladende Kleider aus weißem oder cremefarbenem Seidenmusselin trugen. Einige der älteren Damen hatten sich auf Aubergine und Rosé festgelegt. Beides waren Farben, die in diesem Winter gerne zu festlichen Abendveranstaltungen getragen wurden, wie Lena einem der vielfältigen Modejournale Londons entnommen hatte.
«Monsieur Huvstedt», säuselte eine durchdringende Frauenstimme.
Ihre Besitzerin, die Countess of Lieven, näherte sich ihnen wie ein französischer Sturmangriff. Sie trug ein silberfarbenes Kleid und jede Menge funkelnden Diamantschmuck. Ihre dunkelbraunen Haare, die sie sich angeblich mit Eichenextrakt nachfärbte, waren mit zartblauen Seidenblumenranken zu einem prächtigen Lockengebinde aufgesteckt. Die Frisur betonte ihren ungewöhnlich langen, schlanken Hals und täuschte über ihr tatsächliches Alter von über vierzig Jahren wohlwollend hinweg.
Dass sie mitunter Französisch sprach, wurde nicht als Affront gewertet – schließlich war sie mit einem russischen Fürsten verheiratet, der ebenfalls mehrere Sprachen beherrschte. Außerdem waren ihre Eltern deutsch-baltischer Herkunft, und diese Internationalität brachte es mit sich, dass die Countess, wenn sie zu später Stunde ein wenig beschwipst vom vielen Champagner zu Scherzen neigte, sich kunterbunt aller europäischen Sprachen bediente.
Ohne Mühe wechselte die Prinzessin nun ins Deutsche und ließ sich von Lenas Vater mit einer tiefen Verbeugung und einem angedeuteten Handkuss die Ehre erweisen.
«Ich freue mich außerordentlich, werter Konsul, Sie und Ihre Tochter zum ersten Ball der Saison begrüßen zu dürfen», flötete sie.
Dann wandte sie sich Lena zu, die sich ihrerseits mit einem perfekt einstudierten höfischen Knicks für die Ehre bedankte.
Die Countess unterzog Lenas Aufmachung einer eingehenden Analyse. «Mein liebes Kind», zwitscherte sie, «du bist ja zu einer außerordentlich schönen Blume erblüht! Ich denke, du solltest dich nun in den Versammlungsraum für die jungen Damen begeben. In wenigen Augenblicken geht es mit dem Vorstellungsritual los.»
Dann hakte sie sich bei Lenas Vater unter und geleitete ihn an seinen Tisch.
Für einen Moment fühlte sich Lena angesichts all der Menschen regelrecht orientierungslos, und das, obwohl sie sich mit den anderen Debütantinnen an diesem Ort vor ein paar Tagen zur Generalprobe eingefunden hatte. Die Männer würden heute Abend zum ersten Mal den Saal betreten – es sei denn, sie hatten bereits zuvor an Vergnügungsabenden der Prinzessin teilgenommen.
Lenas Miene hellte sich auf, als sie ihre Vertraute, Rosanna Rhys-Patrick, in der Menge entdeckte, die nicht weniger aufgeregt zu sein schien.
«Du siehst umwerfend aus», flötete Rosanna und hakte sich bei ihr unter.
«Das Kompliment kann ich ohne Neid an dich zurückgeben», erwiderte Lena, die das dicke, kastanienfarbene Haar ihrer ehemaligen Internatsgefährtin aufs Neue bewunderte. Die champagnerfarbenen Seidenblüten, mit denen es über den Ohren zu dicken Schnecken aufgesteckt worden war, passten wunderbar zu ihrem Kleid und ihrer hellen Haut. Ihre dunklen Augen schienen dadurch noch mehr zu strahlen. Lena war auch nicht entgangen, dass ihre Freundin ein umwerfend schönes Collier aus cognacfarbenen Diamanten trug, dessen pompöser Anhänger direkt zwischen ihren üppigen Brüsten baumelte.
Im wesentlich kleineren Versammlungsraum der Debütantinnen ging es zu wie in einem Gänsepferch. Etwa einhundert Mädchen warteten dort auf ihren großen Auftritt, und ihre Nervosität schlug sich in der unglaublichen Lautstärke ihres Geschnatters nieder. Jedes neu eintretende Mädchen wurde mit frenetischem Beifall begrüßt, woraufhin die zuständigen Damen des Organisationskomitees mit energischer Stimme und ein paar strengen Gesten immer wieder für Ordnung sorgen mussten.
«Hoffentlich hat mein Tanzpartner keine roten Haare», seufzte Rosanna und spielte auf Ronald MacDonald Egerton an. Der junge schottische Adlige hatte sich für den heutigen Abend um ihre Begleitung beworben. Sein Onkel war der berüchtigte Earl of Sutherland, dessen unermessliches Vermögen – ähnlich wie bei den Blakes – nicht nur in Schottland, sondern auch in Übersee zu finden war.
Als endlich um Aufstellung gebeten wurde und draußen in der Halle die Musik zu einem enthusiastischen Walzer anhob, schlug Lenas Herz so stark, dass sie glaubte, es würde zerspringen. Sie war nur froh, dass sie nicht die Einzige war, deren Gesicht vor Aufregung glühte. Vielleicht mochte das aber auch an dem Glas Champagner liegen, das man ihnen zur Auflockerung kredenzt hatte.
In Zweierreihen schritten die Mädchen Händchen haltend mit ihrer jeweiligen Partnerin zum Rhythmus der Musik in den großen Ballsaal, wo bis auf die männlichen Tanzpartner alle Anwesenden an großen Tafeln saßen. In der Mitte des Raums hatte man für ausreichend Platz gesorgt, damit die tanzenden Paare nicht zusammenstießen oder die ausladenden Roben der Damen sich an Tischen und Stühlen verfingen.
Als sich nun auch das Corps der Herren näherte, drückte Lena die Hand ihrer Freundin so fest, dass Rosanna nach Luft schnappte. Alles war derart perfekt inszeniert, dass sich die jeweiligen Auserwählten beim letzten Takt der Musik – wenn auch auf Abstand – Auge in Auge gegenüberstanden. Dann erhob sich der ganze Saal, um dem Einmarsch der königlichen Gesandten, Prinzessin Maria, und ihrem Gefolge zu huldigen. Die Prinzessin vertrat offiziell ihren Bruder, König Wilhelm IV.,