Im Vergleich zu seinem unscheinbaren Äußeren – Halbglatze, grauer Backenbart, Brille und schmächtige Statur – war seine Stimme gewaltig, was wahrscheinlich von seiner Zeit als Militärarzt in der Armee herrührte.
«Gut», antwortete sie hastig und schüttelte gleich darauf den Kopf. «Nein, nein, was rede ich da – es geht ihr nicht gut. Jedenfalls nicht wirklich. Sie trinkt nicht, und es fällt mir schwer, sie wach zu halten.» Lena seufzte leise. «Ich frage mich ernsthaft, wie sie den Transport nach Redfield Hall überstehen soll.»
«Notfalls bringen wir sie in die Krankenstation von Falmouth», versuchte er sie zu beruhigen. «Allerdings sind die Krankenzimmer dort meist überfüllt, und ich bin mir nicht sicher, ob sie in einer Seuchenstation richtig aufgehoben ist. Aus meiner Sicht leidet sie lediglich an einer nicht zu unterschätzenden Reisekrankheit. Das ist nichts Ansteckendes. Ich gebe Ihnen noch ein paar von meinen Tinkturen mit», versprach er und lächelte freundlich. «Ihr Verlobter wird Sie doch sicherlich am Hafen abholen?»
«Ich bin mir nicht sicher, obwohl ich es hoffe», gestand Lena ein wenig ratlos. «Schließlich laufen wir eine Woche später als angekündigt im Hafen ein. Woher soll er wissen, dass wir angekommen sind?»
«Gewöhnlich schickt der Hafenmeister Boten zu den Plantagen, sobald ein Schiff gesichtet wird», beruhigte er sie. «Auf keinen Fall sollten Sie sich aber allein auf die Reise begeben. Lieber nehmen Sie ein Zimmer in einem der Hotels in der Innenstadt. Die sind ordentlich geführt und sauber und entsenden auf Wunsch einen Boten, der Ihren Verlobten informiert.»
«Warum sollte ich uns keine Kutsche mieten? Oder ist das Personal nicht seriös?»
«Nun, die Kutscher sind in der Regel Schwarze, und es gab hier in den letzten Monaten einige Sklavenaufstände. Es heißt, Rebellen wiegeln die schwarze Bevölkerung auf. In der Vergangenheit kam es sogar zu Überfällen auf Reisende. Aber ich will Sie nicht verunsichern», beeilte er sich zu sagen. «Ihr Verlobter weiß ganz sicher darum. Und deshalb sollten Sie auf ihn und seine Eskorte warten.»
Lena runzelte die Stirn. Wenn Edward um die Gefahren auf der Insel wusste, warum hatte er sie nicht ausreichend darüber aufgeklärt? Die Strecke vom Hafen bis zur Plantage war mit einem Wagen in wenigen Stunden zu bewältigen, das wusste sie bereits. Der Löwenanteil an Ländereien erstreckte sich zwar im südlich gelegenen Parish St. Thomas, aber das Herrenhaus der Plantage lag an der Grenze des Parish St. Ann zum Parish St. Mary. Insgesamt musste man von Falmouth bis Redfield Hall noch eine Strecke von knapp vierzig Meilen zurücklegen. Edward hatte ihr geschrieben, dass der Weg zu den Blakes über die mittlerweile ausgebaute Küstenstraße bis zur Mündung des White River führte und von dort aus nach Süden. Dabei war keine Rede davon gewesen, dass unterwegs eventuelle Unannehmlichkeiten lauerten.
Lena wusste nicht, ob sie enttäuscht oder entsetzt sein sollte, dass er ihr in den Briefen zuvor nicht geraten hatte, auf jeden Fall auf ihn zu warten.
«Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Doktor», erwiderte sie, ohne sich ihre Zweifel anmerken zu lassen, und schaute aufs Wasser.
Lautlos glitt das Schiff über meergrüne Wellen in Richtung Falmouth. Es roch nach Fisch und Tang. Aus der Ferne wehte der Geruch verbrannten Holzes, vermischt mit einem merkwürdig süßlichen Duft, zu ihnen herüber.
«Wonach riecht es hier, Doktor?»
«Rum», erklärte Dr. Beacon. «In der Nähe gibt es eine Schnapsbrennerei. Falmouth ist ein wichtiger Handelshafen für alles, was mit Zucker zu tun hat, aber auch Tabak und Kaffee werden hier verschifft, wissen Sie?»
Lena zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht allzu viel über Jamaika, nur das, was Edward ihr über das Land und die Lage der Plantage in seinen Briefen geschrieben hatte. Ein Grund, warum sie die Mary-Lynn für die Überfahrt gewählt hatten, deren direktes Ziel Falmouth und nicht Kingston oder Montego Bay gewesen war.
In der halbmondförmigen Hafenbucht konnte Lena eine ganze Armada von Dreimastschonern ausmachen, die allem Anschein nach geduldig auf die Abfertigung warteten. Die meisten von ihnen hatten gut eine Viertelmeile vor dem Hafenbecken festgemacht. Nur ein einzelnes Schiff wurde an einer der beiden Anlegestellen mit Säcken beladen. Wie eine Ameisenarmee trugen dunkelhäutige Männer die Fracht auf ihren Schultern und luden sie einer nach dem anderen auf der Ladefläche eines Holzkrans ab, dessen Flaschenzug von einem im Kreis laufenden Muli in Bewegung gesetzt wurde. Fasziniert beobachtete Lena, wie die Lasten von dort aus hinunter in den Bauch des Schiffes gehievt wurden.
Eine zweite Anlegestelle in tieferem Wasser schien in erster Linie den Passagierschiffen vorbehalten. Jedenfalls steuerte der Kapitän der Mary-Lynn direkt darauf zu.
Lenas Blick glitt wohlwollend über die weißen Sandstrände, die kristallklaren Buchten und die bunte Stadt, deren Straßenzüge schachbrettartig angeordnet waren. Die meisten Fassaden der Häuser waren in Pastelltönen bemalt. Allerdings blätterte bei einigen Häusern bereits die Farbe ab, manche wirkten regelrecht verfallen. In den umgebenden Gärten wuchsen hohe Palmen und halbhohe Laubbäume. Überall waren niedrige Sträucher zu sehen, deren grünes Blattwerk von roten und weißen Blütentupfern durchbrochen wurde. Das Hinterland erstreckte sich in eine langgezogene Ebene, die von weiter entfernten, dunkelgrün und blau schimmernden Berggipfeln begrenzt wurde.
Ein wahres Paradies, schoss es Lena in den Sinn. Wenn Maggie sich doch nur auch daran erfreuen könnte!
Bevor jemand von Bord gehen durfte, entsandte der Hafenmeister einen Arzt auf die Mary-Lynn, der sich kurz mit Dr. Beacon unterhielt, um sicherzustellen, dass es keine Seuchen an Bord gab. Als endlich das Seil von einem der Matrosen gelöst wurde und die Passagiere das Schiff verlassen konnten, hoffte Lena inständig, dass Edward bereits unten an der Anlegestelle auf sie wartete.
Während die Seeleute noch mit dem Vertäuen des Schiffs beschäftig waren, wankte sie zusammen mit etlichen Passagieren über die schmale Brücke. Nach Wochen auf schwankendem Grund dauerte es eine Weile, bis sie sich an festen Boden unter den Füßen gewöhnte.
Auf die exotische Umgebung, die fremden Stimmen und Gerüche, die auf sie einströmten, konnte sie kaum achten. Vielmehr konzentrierte sie sich darauf, in dem Meer von weißen und schwarzen Menschen Edward zu finden. Jedoch war von ihm weit und breit nichts zu sehen.
Mit aufgespanntem Sonnenschirm machte sich Lena schließlich auf ins Büro des Hafenmeisters. Dr. Beacon hatte ihr empfohlen, dort nach aufgegebenen Nachrichten zu fragen. Auf dem Weg zu den blau gestrichenen Hafengebäuden nahm die Anzahl von Negern kontinuierlich zu. Von überall her strömten sie zum Hafen. Manche trugen schwere Lasten auf dem Kopf; andere trieben Maulesel mit vierrädrigen Karren vor sich her, auf denen großes Gepäck geladen war. Die meisten der Männer gingen mit gebeugtem Rücken und schauten missmutig drein, wenn sie ihren Blicken begegnete.
Lena erschrak, als plötzlich neben ihr eine Peitsche knallte und einen der Arbeiter mitten ins Gesicht traf. Wortlos taumelte der Mann zurück, gab aber keinen Laut von sich, obwohl ihm das Blut die Wange hinunterlief. Ein Weißer mit einem breitkrempigen Hut brüllte ihn an, er solle rascher arbeiten. Schnell trat Lena zur Seite, als der Peiniger sich fluchend seinen Weg an ihr vorbei bahnte, offenbar in der Absicht, seine Knute erneut einzusetzen. Am liebsten hätte sie lauthals protestiert, doch was sollte sie tun, falls der rüde Kerl auf sie losgehen würde?
Ach, wenn Edward doch hier wäre!, flehte sie stumm und wandte sich eilig der halb offen stehenden Tür des Hafenkontors zu.
«Tut mir leid, Mylady», erklärte der rundliche Mann hinter der Theke, der trotz der drückenden Hitze eine dunkelblaue Uniform und eine gleichfarbige Kappe trug. «Von Lord Blake oder seinem Sohn liegt mir nichts vor.»
Noch einmal sah er durch die abgegriffene Zettelwirtschaft, die er in einer kleinen Holzkiste aufbewahrte. Sein Schweißgeruch drang Lena unangenehm in die Nase, doch sie hielt es für unhöflich, ihr parfümiertes Taschentuch zu zücken, und zog es deshalb vor, ein wenig auf Abstand zu gehen.
«Aber ich weiß, dass Sir Edward Blake vor knapp einer Woche einen